Oskar Kurer

„Wirtschaftsethik als Kapitalismuskritik“



((1)) Wirtschaftsethik, nach Ulrich, soll sich zunächst der “wirtschaftsethischen Grundfrage” widmen: den “Legitimitätsbedingungen dieses Systems”. Wirtschaftsethik wird zu Kapitalismuskritik. Dass sich Wirtschaftsethiker mit solch grundsätzlichen Fragen auseinander setzen, kann nur begrüßt werden.

((2)) Mit seinem Programm wandelt Ulrich in der Tradition klassischer Sozialkritik wie beispielsweise J.S. Mill. Das Vorgehen war – übersetzt in die Sprache heutiger Modelle – in etwa dies: Sie spezifizierten eine zu maximierende Wohlfahrtsfunktion, also die Kriterien des guten Lebens und die relative Gewichtigkeit ihrer Elemente. Sie versuchten, die für sie relevanten sozialen Interaktionen auszumachen, also die Variablen und Parameter festzulegen. Von einigen dieser Variablen wurde angenommen, dass sie – in vorhersehbarer Weise – manipuliert werden können. Durch Variationen dieser instrumentellen Variablen war man nun in der Lage, den Zustand der Gesellschaft festzusetzen, der die gesellschaftliche Wohlfahrt maximiert. Auch Ulrich wird eine Version dieses Programms adoptieren müssen, um “die normativen Orientierungsgesichtspunkte vernünftigen Wirtschaftens” oder die “Kriterien des gerechten Zusammenlebens freier und gleicher Bürger” zu bestimmen (34; 13).

((3)) Ulrich versucht nun zu zeigen, dass die Axiomatik des “Ökonomismus” – gemeint scheint die neoklassische Ökonomie und der Neoliberalismus – die Sicht auf ein solches Programm versperrt (2). Die “ökonomische Ratio, im Sinne ihrer neoklassischen Definition als Effizienz (nutzenmaximierender Einsatz knapper Mittel)” verkörpere dort die gesamte “ökonomische Vernunft” und werde somit zu einer Weltanschauung, der “Großideologie der Gegenwart” (3). Wie kommt es zu diesem Verlust an Selbstreflexion?

((4)) Ulrich sieht diesen Verlust in der in der Ökonomie verbreiteten Annahme begründet, dass die Akteure rational handeln (der “Rationalitätsunterstellung”), und diese Annahme wird dem homo oeconomicus (H.O.) gleichgesetzt. Die “Rationalitätsunterstellung” wird nämlich definiert als “ein rein ökonomisches, interessenbasiertes Verhaltensmodell, eben das des strikt seinen Eigennutzen maximierenden H.O.” Dieser H.O. steht “dem Wohlergehen seiner Mitmenschen prinzipiell gleichgültig gegenüber”, ist “ein präsoziales Wesen mit ‘ungebundenem Selbst’”, “bar jeglichen Sinns für zwischenmenschliche Beziehungen”, der sich überhaupt nur vergesellschaftet, wenn ihm das “privat etwas nützt”. Alle sozialen Beziehungen schrumpfen auf Geschäftsbeziehungen zusammen (30). Der auf dem H.O. basierende “ökonomische Reduktionismus” gehe davon aus, die “ethisch-normative Logik der Zwischenmenschlichkeit lasse sich restlos in der ökonomischnormativen Logik des Vorteilstausches aufheben” (28).

((5)) Ulrich vermengt hier in unzulässiger Weise zum einen die Rationalitätsunterstellung mit dem H.O. und zum anderen die abstrakt-deduktive Vorgehensweise ökonomischer Modellbildung mit der Umsetzung ihrer Erklärungen und Voraussagen in wirtschaftspolitische Empfehlungen. Zwar geht die Neoklassik von rationalen nutzenmaximierenden Individuen aus, nur muss es sich bei diesem Nutzen keineswegs um Eigennutz handeln. Worauf das Wohlbefinden beruht, woraus der Nutzen gezogen wird, ist völlig offen. In Lional Robbins’ Worten – einem der wichtigsten Begründer dieser Art von Allokationstheorie – “our economic subjects can be pure egoists, pure altruists pure ascetics, pure sensualists or—what is much more likely—mixed bundles of all these impulses” (Robbins, An essay on the nature and significans of economic science, London 1935: 95). Die Rationalitätsvermutung besagt einzig, dass die Nutzenerwartungen verschiedener Handlungsoptionen gegeneinander abgewogen werden.

((6)) Um zu einer operationalisierbaren Nutzenfunktion zu gelangen, wird nun die Annahme eingeführt, “that money plays some part in the valuation of the given alternatives. And they suggest only that if from any position of equilibrium the money incentive is varied this must tend to alter the equilibrium valuations. Money may not be regarded as playing a predominant part in the situation contemplated. So long as it plays some part then the propositions are applicable” (Robbins 1935: 98). Auch hier wird nicht die Existenz eines eigennutzmaximierenden Individuums vorausgesetzt, sondern nur, dass materielle Anreize (aus was für letztlichen Motiven auch immer) ein Handlungsmotiv unter vielen darstellen.

((7)) Im Modell der konventionellen Marktanalyse (“Preistheorie”) nimmt der eigennützig handelnde H.O. allerdings eine zentrale Rolle ein: Unternehmen maximieren Gewinne, Konsumenten ihre Konsummöglichkeiten, der Arbeitnehmer wechselt die Stelle, wenn ihm entsprechende – materielle und immaterielle – Vorteile geboten werden, u.s.w. Die Annahmen schließen ethisches Verhalten – konventionell definiert – aus. Allerdings ist zu beachten, dass sich der H.O. nur in begrenzten gesellschaftlichen Sphären tummelt, im Bereich relativ anonymen Marktgeschehens. Es ist also keineswegs so, dass Ökonomen irgendwelcher Provenienz annehmen, es komme “zur Vergesellschaftung zwischen Individuen allein auf dem Wege des wechselseitigen Vorteilstausches” (31). Aus den Annahmen der neoklassischen Ökonomie lässt sich kein “Ökonomismus” herleiten.

((8)) Selbst wenn nun ökonomische Modelle vom einem in allen Gesellschaftsbereichen eigennützig handelnden H.O. ausgingen, würde das immer noch keinen Reflexionsstopp begründen. Auch Ulrich wird nicht bestreiten, dass die modelltheoretischen Überlegungen neoklassischer Ökonomen keine Auskunft darüber geben, wie das Wirtschaftsleben gestaltet werden sollte. Auch Kritiker einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung können der Ansicht sein, diese neoklassische Analyse sei eine in vieler Hinsicht adäquate Beschreibung des kapitalistischen Wirtschaftslebens, ohne dadurch zum Neoliberalismus verdammt zu sein.

((9)) Obwohl das neoklassische Modell beispielsweise zeigt, dass unter ganz bestimmten restriktiven Annahmen eine auf dem H.O. beruhende Marktwirtschaft zu einer “optimalen” Allokation von Ressourcen führt, empfiehlt sich doch damit dieses System nicht notwendigerwiese zur Adoption. Jedem Studenten wird doch schon im ersten Semester klargemacht, dass Pareto-Optimalität mit jeder ursprünglichen Ressourcenverteilung zu erreichen ist, also von Verteilungsgerechtigkeit abstrahiert. Es würde sich wohl schwerlich ein neoklassischer Ökonom auch neoliberaler Prägung finden, der sich nicht bewusst ist, dass es sich bei Pareto-Optimalität nur um ein Element in einer Wohlfahrtsfunktion handelt. Neoklassische Ökonomen und auch die neoliberalen Befürworter von Markt und Wettbewerb sind also sehr wohl in der Lage, zwischen Pareto- Optimalität (Effizienz) und sozialer Optimalität (“der ganzen ökonomischen Vernunft”) (2) zu unterscheiden.

((10)) Ulrich hat einen Strohmann konstruiert. Am Ökonomismus leidende neoliberale Befürworter von Markt und Wettbewerb haben schlichtweg verkannt, dass die “ökonomische Vernunft” nicht die “ganze Vernunft sein kann” und reduzieren die “ökonomische Vernunft” auf Effizienz (3). Sie haben die “unpersönliche Logik des Marktes” fraglos übernommen (24). Der ökonomische Kern dieses derzeit dominant auftretenden ideologischen Syndroms steckt in seinem reduktionistischen Freiheitsbegriff, der die Bürgerfreiheit paradigmatisch auf die Marktfreiheit verkürzt. Er entspricht dem Freiheits(miss)verständnis von Homines Oeconomici (32). Damit hat Ulrich den Neoliberalismus der Unvernunft überführt (20). Die Neoliberalen haben vergessen, dass es noch andere soziale Ziele als ökonomische gibt, anderes Verhalten als eigennütziges, und verwechseln Modelltheorie mit Wirtschaftspolitik! Mit Hilfe dieses Strohmanns bringt Ulrich das Kunststück fertig, den Neoliberalismus zu verdammen, ohne sich mit ihm auseinander setzen zu müssen!

((11)) Es wäre ja immerhin denkbar, dass Befürworter von Marktwirtschaft und Wettbewerb ihr Handwerk durchaus verstünden, sich gar Gedanken über eine umfassendere gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion gemacht hätten, und trotzdem, aufgrund ihrer Beurteilung gesellschaftlicher Zusammenhänge und instrumenteller Variablen, zum Schluss gekommen seien, dass ein solches Wirtschaftssystem wohlfahrtsmaximierend sei. Dies obwohl eine auf Markt und Wettbewerb beruhende Wirtschaft “Zwangscharakter” hat, die Lebensseinstellung beeinflusst (26, 27), Einkommensungleichheiten sanktioniert und zu Rationalisierungslasten führt, aber auch in Anbetracht dessen, dass eine Marktwirtschaft durchaus mit einer hohen Einkommensumverteilung vereinbar ist, wenn man sich beispielsweise die Staatsquote von 50 Prozent in Deutschland vor Augen hält.

((12)) Durch seine Methodenkritik hat sich Ulrich der substantiellen Diskussion mit dem (Neo-) Liberalismus entzogen und präsentiert seine eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen, ohne auf die liberale Kritik solcher Vorschläge einzugehen.

((13)) Der Neoliberalismus geht davon aus, dass die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion die gegebenen individuellen Präferenzen aggregiert. Ulrich dagegen scheint zu argumentieren, dass Präferenzen sich ändern sollen: Eine “kulturelle Reorientierung” tut Not, “die lebenskluge Indienstnahme der hohen Produktivität” und eine “Kultur des Genug-haben-Könnens” werden gefordert (37). Ulrich postuliert also eine Änderung von Wert- und Verhaltensmustern im traditionellen utopischen Sinn. Es wird nun der “republikanisch gesinnte Wirtschaftsbürger” eingeführt, um dem Vorwurf des Utopismus zu begegnen. Unklar bleibt, wie eine Verhaltensänderung hin zum moralischen Menschen verwirklicht werden soll, die sich im privaten Wirtschaftshandeln persönliche Selbstbeschränkung auferlegt und institutionelle Reformen unterstützt mit dem Ziel rechtsstaatlicher Einbindung aller privaten Machtpotentiale (46). Üblicherweise hat diese Art von Argumentation direkt zum Autoritarismus geführt, einer der Gründe, warum auch der klassische Liberalismus solche Projekte skeptisch beurteilt.

((14)) Ulrichs “Vitalpolitik“ (34-41) impliziert den weiteren Ausbau des Sozialstaats als Element seiner Freiheits- und Gleichheitspostulate, beispielsweise in Form eines Rechts auf angemessen entschädigte Erwerbsarbeit und auf ein allgemeines Grundeinkommen (41). Andere Freiheits- und Gleichheitspostulate – und es ist unklar, warum man Ulrichs vorziehen sollte – führen zu unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen oder lassen gar befürchten, Freiheit und Gerechtigkeit werden durch sie gefährdet. Im Übrigen wird man nicht umhinkommen, dem Lebensstandard ein gewisses Gewicht in einer Wohlfahrtsfunktion einzuräumen und sich mit den entstehenden Zielkonflikten zu befassen. Ulrichs Analyse deutet einzig darauf hin, dass er die verschiedenen Elemente der Wohlfahrtsfunktion wie materiellen Wohlstand (einschließlich Freizeit) und “Gerechtigkeit” anders als Neoliberale gewichtet.

((15)) Ulrich will die Wettbewerbsintensität verringern und Freiräume für “alternative Lebensentwürfe” schaffen (35). Liberale befürchten – mit guten Gründen – dass dies meist zu nichts anderem als der staatlichen Förderung gewisser privilegierter Gruppen führt. Wie will Ulrich also verhindern, dass “Vitalpolitik” nicht zum Vorwand wird, Monopole und Privilegien einiger einflussreicher Interessengruppen und gesellschaftlicher und politischer Eliten zu stärken?

((16)) Ein besonderer Stein des Anstoßes sind für Ulrich die Rationalisierungsmaßnahmen als Folge der “Wettbewerbsintensivierung” (36). Rationalisierungsschübe und Wettbewerbsintensivierung, die wir heute erleben, sind jedoch im Wesentlichen eine Folge technischer Neuerungen, vor allem die Anpassung der Produktions- und Distributionsprozesse an die revolutionären Veränderungen in der Informationstechnologie. Wenn man sich also diesen Rationalisierungen entziehen wollte, würde das doch bedeuten, dass man sich von den technischen Veränderungen beispielsweise der Computerindustrie abschotten müsste. Dass eine solche Politik der Isolierung fatale – nicht nur wirtschaftliche – Konsequenzen hätte, wird nicht nur von Ökonomen geteilt, die dem Ökonomismus huldigen. Was Ulrich als Versagen von Markt und Wettbewerb beurteilt, betrachten andere als eine Manifestation der Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Systems – verglichen zu den vorhandenen Alternativen.

((17)) Die “voraussetzungsreiche ökonomische Axiomatik und Logik”, die “normativen Tiefenstrukturen” der neoklassischen Ökonomik versperren weder die philosophisch-ethische Selbstreflexion (2; 3), noch führt diese Selbstreflexion zu Ulrichs neuem Wirtschaftsstil. Tatsächlich führt Ulrich wenig überzeugende Argumente ins Feld, warum das “Selbstverständnis aufgeklärter Bürger” (44) kein (Neo-)Liberales sein kann.

((18)) Geht man nun aber davon aus, dass Markt und Wettbewerb im Prinzip durchaus ethisch vertretbare Ordnungsprinzipien sind, dann ist auch die in der angewandten Wirtschaftsethik verbreitete Prämisse sinnvoll, “dass es darum gehe, ethische Gesichtspunkte in der Wirtschaft, d.h. ‘unter den Bedingungen der Marktwirtschaft’, zur Geltung bzw. Wirkung zu bringen” (17). Diese Prämisse kann “in ihrer normativen Tiefenstruktur” durchaus reflektiert sein, ist also nicht gebunden an einen Reflexionsstopp “vor den vorgefundenen marktwirtschaftlichen ‘Anwendungsbedingungen der Ethik’” (17) oder einer “methodisch unkontrollierten Affirmation des real existierenden marktwirtschaftlichen Systems” (17). Konventionelle Wirtschaftsethik kann also durchaus gerechtfertigt sein, und dass sie es nicht ist, dafür ist Ulrich den Beweis schuldig geblieben.

Adresse