Ulrich Kazmierski

„ Die “integrative Wirtschaftsethik” ohne “diskursive” und “praktische” Problemlösungskompetenz?“



1. Problemstellung

((1)) Zu Beginn des Hauptartikels kündigt Peter Ulrich an, den “St. Galler Ansatz der ‚integrativen Wirtschaftsethik‘ [als] einen eigenen, dritten Weg zwischen den beiden konventionellen Ansätzen von Wirtschaftsethik als ‚angewandter Ethik‘ einerseits und (angewandter) ‚normativer Ökonomik‘ andererseits” vorzustellen ((Zusammenfassung)). Am Ende des Hauptartikels heißt es dann einschränkend: “Was hier allein möglich war und versucht worden ist, betrifft den Kern der Sache, nämlich die Perspektive eines integrativen ‚Rationalitätsmusters‘ (...) republikanisch-liberal gesinnter Wirtschaftsbürger” ((48)). Obwohl der eindeutige Schwerpunkt in den Ausführungen von Ulrich in der “Wirtschaftsbürgerethik” liegt, wird seiner Ansicht nach der “Kern der Sache” getroffen, nämlich “einen Begriff von vernünftigem Wirtschaften” ((48)) darzustellen. Ulrich begründet diese Beschränkung in der Darstellung damit, dass die “Wirtschaftsbürgerethik” “systematisch als vorrangig begriffen” ((47)) wird gegenüber Ordnungsund Unternehmensethik: Denn diese “reflektieren deren grundlegende normative Orientierungsideen in je spezifischem Zusammenhang; sie beginnen damit freilich erst.” ((47))

((2)) Ziel dieser Kritik ist es zu hinterfragen, ob mit der Fokussierung auf die “Wirtschaftsbürgerethik” in der Darstellung der “integrativen Wirtschaftsethik” auch wirklich der ganze “Kern der Sache” erfasst wird, oder ob vielleicht doch wesentliche Teile unberücksichtigt bleiben.

2. Wo bleibt das “Diskursive”?

((3)) Das “kognitive Moment” der “Vernunftethik” und damit auch der “integrativen Wirtschaftsethik”, welches “letztlich als die Wurzel aller Moralität überhaupt zu begreifen ist, ist die Fähigkeit zum gedanklichen Rollentausch, also unser Vermögen, in Gedanken uns in die Lage eines Alter Ego zu versetzen und uns vorzustellen, ‘was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden’ (Smith, 1985: 2)” ((10); kursive Hervorhebung im Original). Diesen “gedanklichen Rollentausch” verallgemeinert Ulrich “in einem vernunftethischen Abstraktionsschritt zur regulativen Idee des universellen Rollentausches (ideal role-taking) in der ideellen Gemeinschaft aller Menschen” ((10); Hervorhebung im Original). Dieser “ideelle Rollentausch” begründet dann die “Vertretbarkeit gegenüber jedermann” ((12)). Entscheidend ist an dieser Stelle, dass der “gedankliche Rollentausch”, auch in seiner universalisierten Form (“ideal role-taking”), ein Gedankenexperiment ist, das von jedem Wirtschaftssubjekt durchgeführt werden kann: “Verantwortungsbewusste Wirtschaftssubjekte werden so weit und nur so weit auf die weitere Verfolgung ihrer privaten Partikularinteressen verzichten, wie diese sich im ideellen Rollentausch als nicht verallgemeinerbar und damit als nicht legitimierbar erweisen” ((13)). Als Gedankenexperiment ist der “ideelle Rollentausch” jedoch nicht dialogisch, sondern bleibt auf das einzelne Wirtschaftssubjekt beschränkt und ist somit monologisch ausgerichtet. Damit repräsentiert der “gedankliche Rollentausch” jedenfalls noch keine “konkrete Reziprozität zwischenmenschlicher Verbindlichkeiten” ((10)), wie Ulrich unterstellt.

((4)) Zu Recht verweist Ulrich darauf, dass mit dem “ideellen Rollentausch” “der Vernunftstandpunkt der Moral die Form einer verständigungsorientierten Einstellung” ((11); Hervorhebung im Original) erhält. Aber eine “verständigungsorientierte Einstellung” ist noch nicht die Verständigung selbst: Sie ist zweifellos die hierfür notwendige, aber keineswegs die hinreichende Bedingung. Die Verständigung selbst erfolgt im “wirtschaftsethischen Diskurs”; und der “ideelle Rollentausch” ist wohl kaum schon die “regulative Idee eines wirtschaftsethischen Diskurses”.1 Das heißt: der “ideelle Rollentausch” beinhaltet damit (noch) nicht die “sozialökonomische Rationalitätsidee [...] als regulative Idee eines wirtschaftsethischen Diskurses” ((13)). Und damit kann auch der “moral point of view einer Vernunftethik des Wirtschaftens” ((13)) Hervorhebung im Original) (noch) nicht erfasst werden.

((5)) Ein Übergang zur “regulativen Idee eines wirtschaftsethischen Diskurses” wird am Ende des Hauptartikels angedeutet, allerdings nicht ausgeführt: “Republikanisch gesinnte Wirtschaftsbürger” sind “bereit, ihre wirtschaftlichen Pläne zur Disposition zu stellen und ihre Präferenzen zu ändern, soweit sie sich nicht im Sinne des ideal role-taking gegenüber allen Betroffenen öffentlich vertreten lassen” ((46); Hervorhebung im Original). Ist diese “prinzipielle Bereitschaft zur wirtschaftsbürgerlichen Selbstbindung” ((46); Hervorhebung im Original) ein Übergang zum “wirtschaftsethischen Diskurs”? Was heißt dann “gegenüber allen Betroffenen öffentlich vertreten lassen”?

((6)) Der “wirtschaftsethische Diskurs” wird im Hauptartikel weder als gedanklich idealisiertes noch als pragmatisches Verfahren näher thematisiert. Damit bleibt bei Ulrich offen, wie es systematisch vom monologischen, “gedanklichen Rollentausch” zur dialogischen Verständigung im “wirtschaftsethischen Diskurs” kommt. Dies gilt auch für die Argumentationsebene regulativer Ideen. Bemerkenswert ist dies insofern, da “konstitutiv für Wirtschaftsethik” eben “die Klärung der Form des rationalen Umgangs mit Fragen des gesellschaftlichen Wirtschaftens” ((5); Hervorhebung im Original) ist. Dies setzt aber einen “wirtschaftsethischen Diskurs” voraus. Ebenso lassen sich die “(teleologisch-ethische) Sinnfrage” und die “(deontologisch-ethische) Legitimationsfrage” nicht mit Hilfe monologischer Gedankenexperimente beantworten. Die Fokussierung auf den “ideellen Rollentausch” lässt das Diskursive aus dem Blickfeld geraten, das doch eigentlich zum “Kern der Sache” “integrativer Wirtschaftsethik” gehört.

3. Wo bleibt das “Praktische”?

((7)) An mehreren Stellen des Hauptartikels verweist Ulrich auf die “praktische Bedeutung”: So ist die “integrative Wirtschaftsethik” “mehr als eine akademische Übung im Elfenbeinturm” ((Zusammenfassung)). Sie ist vielmehr eine “praktisch bedeutsame Interdisziplin” ((5)). Als Bezugspunkte der “praktischen Bedeutung” werden “konkrete Entscheidungssituationen” ((13)), “privates Handeln” und der “demokratischpolitische Willensbildungsprozess” ((47)) benannt.

((8)) Wie wird die “praktische Bedeutung” realisiert? An mindestens drei Stellen im Hauptartikel geht Ulrich darauf ein: (a) Hinsichtlich “konkreter Entscheidungssituationen”, in denen “i.d.R. teilweise konfligierende[n] Ansprüche” aufeinandertreffen, kommt “es auf den erwähnten lexikalischen Vorrang einer verständigungsorientierten vor einer erfolgsorientierten Einstellung an” ((13)), der durch den “ideellen Rollentausch” als Verfahren realisiert wird. Diese “Rangordnung” (“Primat der Ethik”) “liegt im Wesen der ‘Sache’ einer ethischen Integration der ökonomischen Rationaliät, d.h. der Entwicklung einer unverkürzten, ethisch gehaltvollen Perspektive vernünftigen Wirtschaftens” ((13)). (b) Bezüglich der Entwicklung einer Wirtschaftsbürgergesellschaft und wie dementsprechende “Wirtschaftsbürgerrechte in Absicht auf die lebbare Freiheit aller konkret auszugestalten sind (z.B. als Recht auf angemessen entschädigte Erwerbsarbeit, auf ein allgemeines Grundeinkommen oder auf andere Formen der Teilhabe an der gesellschaftlichen Wertschöpfung), kann hier nicht weiter erörtert werden, ist aber in einer voll entwickelten Bürgergesellschaft letztlich ohnehin Sache der Bürger selbst” ((41)). (c) Eine Bürgergesellschaft hat u.a. auf die “Sinnfrage” eine Antwort zu geben: “Moderne Antworten auf die Sinnfrage des Wirtschaftens können – als ein Stück Ethik des guten Lebens – selbstverständlich nur behutsame formale Antworten bezüglich der wesentlichen Voraussetzungen einer selbstbestimmten, authentischen Wirtschafts- und Lebensform freier BürgerInnen geben, also auf Sinn aus Freiheit setzen” ((35); Hervorhebung im Original).

((9)) In diesen drei Beispielen kommt die “praktische Bedeutung” des “integrativen Ansatzes” im Sinne eines Anwendungsbezugs nicht zum Tragen: Es wird entweder auf das “ideelle Verfahren” des “Rollentausches” verwiesen, der aber noch nicht in einen “wirtschaftsethischen Diskurs” mündet, oder es wird festgestellt, dass “in einer voll entwickelten Bürgergesellschaft” die Wirtschaftsbürgerrechte in ihrer konkreten Ausgestaltung “letztlich ohnehin Sache der Bürger selbst” sind. Was ist aber mit dem davor gelagerten “demokratisch-politischen Willensbildungsprozess”? Wie wird dieser “vorrangig verständigungsorientierte[r] Prozess deliberativer Willensbildung begriffen und gestaltet” ((47); Hervorhebung im Original)? Und wenn hinsichtlich der “Sinnfrage” “selbstverständlich nur behutsame formale Antworten” gegeben werden können, welche Antworten sind das?

((10)) Ulrich wird in diesem Zusammenhang vermutlich darauf verweisen, dass er sich hier auf der Ebene “regulativer Ideen” bewegt, die eben keine “pragmatischen” Verfahren sind und somit auch keine “pragmatischen Fragen dialogischer Willensbildung” (1996: 34) betreffen. Tatsächlich schränkt Ulrich zum Ende des Hauptartikels die “praktische Bedeutung des integrativen Ansatzes” auch ein: “Die vielschichtigen ordnungs- und unternehmensethischen Konsequenzen integrativer Wirtschaftsethik können hier in der erforderlichen Auseinandersetzung mit den entsprechenden konkreten Problemzusammenhängen nicht erörtert werden, auch wenn sich erst dort die normative Kraft und die praktische Bedeutung des integrativen Ansatzes voll zeigt” ((47)). Dies bedeutet aber auch umgekehrt: Mit dem Verzicht auf die Erörterung “konkreter Problemzusammenhänge” vergibt Ulrich auch die Chance, dass sich “die normative Kraft und die praktische Bedeutung des integrativen Ansatzes voll zeigt”. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Ist dies der “Kern der Sache” der “integrativen Wirtschaftsethik”?

((11)) In “Transformation der ökonomischen Vernunft”, der gedanklichen Wiege der “integrativen Wirtschaftsethik”,2 heißt es: “Der Schlüssel zum angemessenen Selbstverständnis praktischer Sozialökonomie liegt im (selbst-)kritischen Umgang mit dem notwendigen Spannungsfeld zwischen regulativen Ideen und pragmatischen Handlungs- oder Organisationsvorschlägen. [...] Universalistische Gültigkeits- oder Geltungsansprüche sind auf die «idealistische Spitze» (Apel) universalpragmatischer Grundeinsichten [...] zu begrenzen. Mit derart allgemeinen Aussagen braucht sich die praktische Sozialökonomie indessen nicht zu begnügen. Im Gegenteil beginnt sie als praktisch-philosophische Disziplin mit spezifischen Inhalten eigentlich erst dort, wo die universalen Grundeinsichten aufhören: beim Übergang von der abstrakten Ebene regulativer Ideen zur konkreten Ebene pragmatischer sozialökonomischer Praxisprobleme” (1993: 345). Die “gedankliche Wiederankopplung des ökonomischen Systems an die Lebenswelt aus dem Blickwinkel der lebensweltlich betroffenen Menschen” (1993: 351; Hervorhebung im Original) erfordert mehr als nur den Verweis auf “ideelle Verfahren”. Es erfordert “vor allem die konzeptionelle Aufbereitung und die kritische Begleitung lebenspraktischer Diskurse. Ihre konzeptionelle Funktion kann darin liegen, dass die Wissenschaftler im handlungsentlasteten Diskurs auf dem Hintergrund des rekonstruierten Traditionszusammenhangs systematische, in sich konsistente Entwürfe für die Strukturierung komplexer Praxisbereiche zur Diskussion stellen, um so die Interdependenz und Konsequenzen bestimmter Problemlösungsalternativen transparent und argumentationszugänglich zu machen. Solche konzeptorientierte wissenschaftliche Praxisberatung will keine normativen (politischen) Entscheidungen vorwegnehmen, sondern nur mögliche Argumentationsfiguren in die notwendigen lebenspraktischen Verständigungsprozesse der Betroffenen einbringen. Diese Prozesse kann sie schliesslich selbst noch kritisch begleiten, indem sie weniger Antworten zu geben versucht als vielmehr unermüdlich kritische Fragen stellt und auf vernachlässigte lebenspraktische Aspekte hinweist: Verständigungswissenschaft hat primär die Aufgabe, Diskurse über praktische Fragen zu eröffnen und offen zu halten; sie durch politische Entscheidungen zu schliessen kann sie getrost – und muss sie – der Praxis überlassen” (1993: 346; Hervorhebung im Original).

((12)) Diese ausführlicheren Passagen aus “Transformation der ökonomischen Vernunft” machen deutlich, dass dort der eigentliche Schwerpunkt der “integrativen Wirtschaftsethik” weniger auf der Argumentationsebene “regulativer Ideen” liegt, sondern vielmehr auf der pragmatischen Argumentationsebene. Denn gerade auf dieser Ebene liegen die “sozialökonomischen Problemlagen” ((4)), dort lassen sich “Sinn”- und “Legitimationsfrage” beantworten und ein “vorrangig verständigungsorientierter Prozess deliberativer Willensbildung” gestalten. Dieser “praktische” bzw. “pragmatische” Schwerpunkt ist im Hauptartikel nicht mehr zu finden. Hat sich damit der “Kern der Sache” innerhalb der “integrativen Wirtschaftsethik” verschoben?

4. Schlussbemerkung

((13)) “Wozu aber sollte praktische Sozialökonomie allgemeingültigere Argumentationen liefern als praktisch gefragt sind?” (Ulrich 1993: 345) Diese Frage stellt sich m.E. erneut. Nun allerdings vor dem Hintergrund der aktuellen Darstellung der “integrativen Wirtschaftsethik”. Auf der Argumentationsebene “regulativer Ideen” mit der Fokussierung auf den “ideellen Rollentausch” als Gedankenexperiment gerät der “wirtschaftsethische Diskurs” aus dem Blickfeld. Auf der Argumentationsebene “pragmatischer Handlungs- und Organisationsvorschläge” werden nur noch die Probleme (“sozialökonomische Problemlagen”, “Sinn”- und “Legitimationsfrage”) und Ziele (“vorrangig verständigungsorientierter Prozess deliberativer Willensbildung”, “Wirtschaftsbürgerethik”) angesprochen, ohne “pragmatische” Problemlösungsvorschläge (wie ansatzweise in der “Transformation der ökonomischen Vernunft”) zu entwickeln. Entweder wird mit der aktuellen Darstellung der “integrativen Wirtschaftsethik” der “Kern der Sache” nicht getroffen, oder der “Kern der Sache” hat sich innerhalb der “integrativen Wirtschaftsethik” verschoben, was dann zu der Ausgangsfrage zurückführt: Ist der “integrative Ansatz” eine Wirtschaftsethik ohne “diskursive” und “praktische” Problemlösungskompetenz?

Anmerkungen

Literatur

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