Daniel Dietzfelbinger

„Von der Polarisierung zum Stilkonzept: Integration statt Hierarchisierung“



((1)) Wäre das Gute doch nur um des Guten willen da! Ulrich erweckt den Eindruck, es gäbe so etwas wie eine interessenfreie, rein am Guten (und was soll das sein?) orientierte Ethik. Ein grundsätzlicher Punkt vorne weg: Ethik hat es mit dem wohlgelingenden, mit dem guten Leben zu tun. Die Frage nach dem Guten ist erstens grundsätzlich interessengeleitet — nämlich vom Interesse an dem guten Leben, zweitens hat sie auch ökonomische Aspekte, da für ein gutes Leben auch (nicht: nur!) Aspekte des Wohlstands zu berücksichtigen sind.

a) Einsicht in die Uneinsichtigkeit

((2)) Ulrichs beschriebene “Einsicht”, dass das Normative immer schon in der ökonomischen Sachlogik steckt (2), scheint gegenüber früheren Veröffentlichungen eine veränderte Sichtweise zu sein; gleichwohl wirft Ulrich diese Einsicht alsbald wieder über Bord (vgl. etwa 22ff u.ö.). Das ist bedauerlich, denn der Verzicht auf diese Einsicht führt zwangsläufig in die unfruchtbare Frontstellung von hier Ethik und da Wirtschaft. Nicht mehr das Gemeinsame wird gesucht, das Trennende wird betont. Dies gipfelt in der These, der Moral als einer “verständigungsorientierten Einstellung ... prinzipiell (den) lexikalischen Vorrang vor jeder (strategischen) Erfolgsorientierung” (11) beizumessen. Damit sind alle Kommunikationskanäle verstopft. Nach Ulrich kann sich Ethik als Reflexion der Moral letztlich nur auf das Gewissen, auf die Gesinnung (47), den “guten Willen” (42) berufen; so entwickelt Ulrich eine Gesinnungsethik, über die Max Weber sagte: “Man muss ein Heiliger sein in allem, zumindest dem Wollen nach, muss leben wie Jesus, die Apostel, der heilige Franz und seinesgleichen, dann ist die [Gesinnungs-]Ethik sinnvoll und Ausdruck seiner Würde.”1 Es ist dagegen zu stellen, dass ökonomische wie ethische Rationalität als gleichberechtigt angesehen werden müssen, keine darf also der anderen übergestülpt werden oder den Primat — schon gar nicht thetisch! — für sich beanspruchen. Zu begründen ist dies damit, dass sich der Mensch immer schon sowohl im moralischen Handlungsbereich wie im ökonomischen aufgehalten hat und aufhält. Mit dieser Überlegung ist Ulrichs Kritik an einem missverstandenen Ökonomismus zu teilen, der alle Lebensbereiche ausschließlich nach dem wirtschaftlichen Paradigma bemessen will. In der Tat: Eine solche Sichtweise ist eine Reduktion der menschlichen Lebensvielfalt. Aber: Auch der umgekehrte Weg, nämlich alles durch die ethische Vernunft bestimmt zu sehen, ist ein Reduktionismus. Es bleibt Ulrichs Geheimnis, wie es zu der Vorrangstellung der Moral kommt. Ulrich führt als Begründung die “tief in der Conditio humana verwurzelte soziale Struktur aller Moral” (10) herbei. Gleichwohl: Solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, kann genauso gelten, dass auch das wirtschaftende Verhalten des Menschen in dieser conditio humana verwurzelt ist und zumindest einen gleichberechtigten Anspruch erheben kann.

((3)) Es ist nicht nur der Ökonomismus, den Ulrich kritisiert, letztlich steht bei ihm die ökonomische Rationalität per se unter dem Verdikt, ökonomisch interessengeleitet zu sein. Das aber muss sie auch sein: Sollten wir uns wünschen, dass große Unternehmen nicht ökonomisch-interessengeleitet sind, sondern zum Beispiel politisch? Sollten wir uns wünschen, dass die Deutsche Bank religiöse statt ökonomische Interessen vertritt? Umgekehrt: Ist es einem Pfarrer oder einer Pfarrerin zum Vorwurf zu machen, dass er oder sie sich in vertraulichen Gesprächen eher seelsorgerlich statt z.B. arbeitsökonomisch<&p>

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verhält? Ökonomische Akteure müssen zuallererst ihr wirtschaftliches Interesse verfolgen — wobei hier nicht von eigengesetzlichem Sachzwang die Rede ist, sondern von systembezogener Funktionslogik,die eine Integration keineswegs ausschließt. Natürlich ist der Ökonomismus in der Form, wie Ulrich ihn beschreibt, mit allen erdenklichen Mitteln abzulehnen. Aber nicht alles und jeder, der in der Wirtschaft tätig ist oder sich mit dem Thema Wirtschaft auf wissenschaftlicher Ebene beschäftigt, ist gleich ein Verfechter dieses Ansatzes (es wäre interessant, wie ein wirklicher Verfechter des Ökonomismus auf die moralisierende bzw. ethisierende Argumentation Ulrichs reagieren würde — ihm bliebe wohl nicht viel mehr, als das Ulrichsche Modell als Moralismus abzulehnen und dieses Feindbild des Moralismus zur Forderung nach dem Primat des Ökonomischen zu nehmen!).

((4)) Ulrich polarisiert die Fronten: Hier Ethik, da Wirtschaft. Er kommt aus dieser Polarisierung nicht heraus — vermutlich ist das auch nicht sein Ziel. Ulrich spricht zwar von einer “unvoreingenommenen Weise” der Konfliktlösung (13), setzt aber die verständigungsorientierte vor die erfolgsorientierte Einstellung. Die vielfach repetierte Behauptung von dem Primat der Ethik führt nicht zu einer Integration, schon gar nicht zu einer integrativen Wirtschaftsethik, sondern ist eine Hierarchisierung der beiden Rationalitäten, die Ulrich in umgekehrter Weise der “nonkognitivistischen Position” (15) vorwirft. Es ist klar, dass Ulrich von seinem Standpunkt sowohl mit Vertretern einer systemtheoretischen als auch mit denen einer — wie Ulrich das nennt — “’angewandten Ethik’” (17) auf Kriegsfuß stehen muss. Allerdings überrascht der Vorwurf Ulrichs, die “angewandte Ethik” würde eine “‘falsche Zwei- Welten-Konzeption’” (18) zu Grunde legen. Entweder übersieht Ulrich, dass er nicht minder eine Zwei-Welten-Konzeption entwirft, oder aber — dies scheint wahrscheinlicher und steht durch das Adjektiv ‘falsch’ zu vermuten — Ulrich hält seine Zwei-Welten-Theorie, in der Wirtschaft und Ethik nur noch soviel miteinander zu tun haben, dass Ethik der Wirtschaft oktroyiert werden muss, für die richtige. Das aber müsste Ulrich begründen.

((5)) Ulrich macht es sich zu bequem: Es ist einfach, sich in den hohen Turm der Ethik zu setzen, und von dort aus auf die Ebene der ökonomischen wie wirtschaftsethischen Ansätze zu blicken, die er von dieser Warte aus leicht unter Beschuss nehmen kann. Jeder Ansatz, der Ethik in die Wirtschaftspraxis einfließen lassen will, wird von Ulrich zum Freiwild erklärt. Hier aber ist Klärungsbedarf: Ethik als Handlungswissenschaft und -theorie, als “Theorie der menschlichen Lebensführung” 2, muss es ja geradezu auch mit ihrer Anwendung zu tun haben. Ethik reflektiert die Praxis und lässt die daraus theoretisch gewonnenen Erkenntnisse wieder in die Praxis einfließen. Ethik setzt den Konflikt, die alltägliche Diskrepanzerfahrung mit dem Ziel des Konsenses voraus.3 Noch viel stärker gilt dies für eine Bindestrich-Ethik wie Wirtschaftsethik. Das Umfeld ist durch die Bindestrich-Verbindung näher abgesteckt. Die Konflikte, die sich daraus und darin ergeben, sind genau das Material, mit dem sich Ethik zu beschäftigen hat. Warum sich Ulrich so gegen die Anwendung von Ethik im wirtschaftlichen Leben wendet, bleibt unklar. Natürlich: Durch das ständig replizierte Feindbild des Ökonomismus kann man vielleicht am Ende auch so viel Angst erzeugen, dass alle nach Ethik rufen und ihre Vorrangstellung fordern. Es ist aber zu bezweifeln, ob das Gespenst des Ökonomismus’ allein als Legitimation für Ethik ausreicht.

((6)) Ulrichs Kritik an dem von ihm dargestellten ökonomischen Determinismus und ökonomischen Reduktionismus (23, 24 u.ö.) ist zuzustimmen. Doch kann die Lösung nicht in einem ethischen Determinismus oder moralischen Reduktionismus bestehen. Methodisch hat weder dieser noch jener Vorrangstellung. Der Vorwurf der “strukturellen Parteilichkeit der Sachzwanglogik des Marktes” (24) trifft so lange ins Leere, solange Ulrich parteiisch für den Primat der Ethik eintritt (vgl. 34 u.ö.). Damit soll keineswegs bestritten werden, dass die alleinige Ausrichtung an ökonomischen Interessen ethisch bedenklich, sozial schwer erträglich und anthropologisch kaum haltbar ist. Ob solchen Positionen aber mit dem ethischen Zeigefinger begegnet werden kann, ist fraglich. Man stelle sich nur einen Unternehmenschef mit den Thesen Ulrichs vor! Sollte er sein Unternehmen schließen und alle Mitarbeiter freisetzen, weil er sich nicht als Wirtschaftsbürger, sondern auch (nicht: ausschließlich) als Unternehmer fühlt?

((7)) Ulrich tappt in eine Falle, die er sich mit der Berufung auf Kant selbst gestellt hat. Denn erst der Kantsche Vernunftansatz ist es, der die Dynamik der modernen wirtschaftlichen Rationalität zumindest zum Teil gefördert hat. Kant hatte die Aufklärung und den Austritt des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit insbesondere in Bezug auf die Vorherrschaft der Religion begründet.4 Eine der Folgen dieser Aufklärung war gleichwohl die quasi religiöse Vorherrschaft der Vernunft — das Problem der Dialektik der Aufklärung. Ein Blick auf die Menschenbilder der ökonomischen Theorie macht das deutlich:5 Während etwa Adam Smith und seine Epigonen noch stark auf ein empirisches Menschenbild setzen, entwickelt sich erst im 19. Jahrhundert — bedingt durch die aufkommende Industrialisierung und (wenn das überhaupt zu trennen ist) durch die Rationalisierung des Weltbildes — das Modell eines rational handelnden Menschen, des homo oeconomicus, obschon die genaue Genese dieses Begriffs im Unklaren ist.6 Nicht zuletzt in Folge Kants wandelt sich das Menschenbild von einem empirisch fremdbestimmten zu einem analytisch selbstbestimmten.

b) Von der Hierarchisierung zur Integration: Das Stilkonzept

((8)) Ulrich überwindet den von ihm betonten Dualismus nicht, er verschärft ihn. Das ist umso bedauerlicher, weil der Gedanke einer “integrativen Wirtschaftsethik” — fasst man den Begriff nicht ohnehin als weißen Schimmel auf — tatsächlich die einzige Möglichkeit ist, die unterschiedlichen Rationalitäten der beiden Systeme ineinander zu bringen. Allein: Ulrich integriert nicht, er hierarchisiert. Nolens volens sieht Ulrich dieses Problem, wenn er von einer “Reorientierung an einem noch zu entwickelnden ‘integrativen’ Wirtschaftsstil” (37) spricht. Hier ist das Kernproblem: Der Begriff Wirtschaftsstil, wird er in seiner Genese und in seiner aktuellen Bedeutung ernst genommen, meint wirkliche Integration, nicht Hierarchisierung, nicht Polarisierung. Der stiltheoretische


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Ansatz ist bemüht, beide Sichtweisen, die der Ethik wie der Ökonomie, in ein gesellschaftspolitisches (dazu gehören u. a. die Wirtschaft wie die Ethik) Gesamtkonzept zu integrieren, jenseits von Hierarchisierungen oder oktroyierten Rationalitäten. Der Stilbegriff ist gerade ein Konzept, das sich auf die Kultur einer Gesellschaft bezieht, und zu dieser Kultur als der aktiven Überführung des Möglichkeitsraums in Gestaltung durch den Menschen gehören so unterschiedliche Dinge wie Wirtschaft, Kunst, Infrastruktur oder eben Ethik.

((9)) Das Stilkonzept, wie es vor allem von Alfred Müller-Armack vertreten wurde,7 basiert auf einer Anthropologie, die einseitige Ideologisierungen oder Hierarchisierungen, wie sie sich bei Ulrich finden, zu überwinden sucht: Die Stiltheorie stützt sich auf die Anthropologie Helmuth Plessners, der den Dualismus zwischen einer naturalistischen und einer idealistisch ausgerichteten Lehre vom Menschen mit der Formulierung von der “exzentrischen Positionalität”8 und dem neu definierten Personbegriff überwunden hatte. Plessner und in seiner Rezeption Müller-Armack sehen beides im Menschen, beides gleichberechtigt zugehörig zum Menschen, das demnach nicht in ein offenes oder latentes Hierarchieverhältnis gebracht werden kann. Dieses anthropologisch-integrative Konzept überträgt Müller-Armack auf das Wirtschaftsstildenken. Es geht nicht um Polarisierung, es geht nicht um einseitige Betonung, schon gar nicht um Hierarchisierung, sondern es geht um eine wirkliche Integration zweier Kultursachbereiche in gleichberechtigter Form. Das findet bei Ulrich nicht statt.

((10)) In seiner richtig verstandenen Form wird das Stilkonzept tatsächlich das Zukunftsmodell von Wirtschaftsethik: Es vermeidet genau die von Ulrich vorgetragenen Polarisierungen, es vermeidet Moralismus auf der einen Seite und Ökonomismus auf der anderen Seite.9 Denn wird die anthropologische Fundierung des Stilkonzepts ernst genommen, dann erscheinen Sätze Ulrichs, wie: “(Wirtschaftsethik) füllt die Lükke, welche die einst bei den Klassikern nicht zufällig aus der Moralphilosophie hervorgegangene Politische Ökonomie mit ihrer neoklassischen Ausdünnung zur ‘reinen’ ... Ökonomik hinterlassen hat” [(4) u.ö.], in einem anderen Licht, nämlich im Licht des Stilkonzepts, das beide Seiten zu integrieren versucht und ein einseitiges Defizit tatsächlich zu kompensieren hat. Der Stilgedanke hat damit in sich bereits ethische Funktion, da er selbst zu einer Norm wird, denn zwischen einem ideal vorgestellten und dem faktischen Stil einer Gesellschaft besteht immer eine Diskrepanz.10 Dies ist genau die Sprache, die sowohl Ethik wie Ökonomie verstehen: Ethik basiert auf dieser Diskrepanzerfahrung: Würden Faktizität und Ideal (das ethisch eher immateriell gefasst ist) ineinander fallen, wäre Ethik überflüssig geworden. Auch die Ökonomie erhält ihre Dynamik aus dieser Diskrepanzerfahrung, denn auch hier geht es darum, dass der in der Zukunft erhoffte Status des Einzelnen, des Unternehmens, der gesamten Volkswirtschaft besser wird, also dem Ideal (das in der Ökonomie eher materiell geprägt ist) näher kommt. Diese Funktionslogik des Stilkonzepts — die für Ethik wie Ökonomie gleichermaßen gilt — verdeutlicht, dass wirklich moderne, integrative Wirtschaftsethik nicht darauf aufgebaut werden kann, das eine vor oder über das andere zu stellen (das gilt für Ulrich ebenso wie für Ansätze, die Ethik zum Steigbügelhalter für die Ökonomik machen). Darüber hinaus hat das Stilkonzept einen entscheidenden Vorteil: Mit ihm lassen sich aus der Gegenwart Normen und Gestaltungsmöglichkeiten reflektieren, die dann wieder in die Gegenwart einfließen können. Das Stilkonzept basiert auf einer pragmatischen Gegenwartsanalyse und verzichtet auf den Appell an einen idealtypischen Menschen (37 u.ö.), einen “homo ethicus”, den es in der von Ulrich idealisierten Form realiter nicht oder nur ganz selten gibt (das gilt genauso für den homo oeconomicus). Das wirtschaftsethische Stilkonzept arbeitet mithin mit der realistischen Grundannahme, dass der Mensch — verkürzt gesprochen — die Rationalitäten der Ethik wie der Ökonomie versteht und beide auch jeweils anwendet, nicht aus Nutzenkalkülen, sondern je nach der erforderten Situation.

((11)) Wenn Ulrich an die ethisch-vernünftigen und wirtschaftsrationalen Bürgerinnen und Bürger appelliert, dann klingt das wie der Ruf aus einer fernen Welt in die Pragmatik des Wirtschaftsalltags. Es soll damit Ulrich nicht ins Messer gelaufen werden: Ulrich hat mit seinem Einspruch gegen die Position Recht, die die Marktbedingungen als unhinterfragbar, als eine unabänderliche Eigengesetzlichkeit gegeben sieht und Moral nur innerhalb dieser Grenzen der faktischen Ökonomie — wenn überhaupt — positionieren will. Gleichwohl kann die appellative Moralisierung der Ökonomie ebenso nicht zum Erfolg führen. Wirtschafts-Ethik fordert die gleichberechtigte Anerkenntnis der wirtschaftenden Seite des Menschen. Noch einmal: Diese Anerkenntnis heißt nicht Unterwerfung oder Alleinherrschaft dieser Seite. Es soll lediglich der Erfahrung Rechnung getragen werden, dass es diese ökonomisch- interessengeleitete Seite des Menschen auch gibt. Es ist der Teufelskreis der Selbstlegitimation einer so schwierigen Disziplin wie Wirtschaftsethik, der — wird er in den Grenzen geführt, die die Diskutanten selbst ziehen — faktisch nie zu einem fruchtbaren Ergebnis kommen kann, sondern er muss in der zunehmend radikalen Frontstellung von Peter Ulrich gegen Karl Homann enden. Das ist schade, weil es schon lange Konzepte gibt, die sich gegen Polarisierungen wenden, freilich, sie haben oft den Touch des intellektuell Unredlichen an sich. Das ist umso bedauerlicher, als zwar die ständige Neuformulierung antagonistisch erscheinender Positionen für Leser und Leserin manches Mal unterhaltsam erscheint, faktisch aber vermutlich weniger Erkenntnisfortschritt bringt, als für die Sache wünschenswert wäre.

Anmerkungen

Literatur

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