Reinhard Blum

„ Integrative Wirtschaftsethik. Ethischer Mensch statt ökonomischer Mensch?“



((1)) In einer Zeit, wo soziale Fragen durch den Wohlfahrtsstaat gelöst zu sein scheinen oder als “soziale Hängematte” abgewertet werden, verlagert sich die Kritik am Kapitalismus offenbar auf seine ethischen Mängel. Der Begriff Wirtschaftsethik signalisiert bereits, daß eine Integration von Wirtschaft und Ethik versucht werden soll. Peter Ulrich (P. U.) kritisiert zurecht, daß dieser Begriff durch die “neue Politische Ökonomie” als Ökonomik marktwirtschaftlich “besetzt” wird, wie sich
[S.571]
in der Sprache des modernen Marketing formulieren ließe. Ob es der “integrativen Wirtschaftsethik” von P. U. gelingt, die Wirtschaftsethik wieder aus der Verankerung in der Ökonomik zu lösen, soll im folgenden unter drei Blickwinkeln geprüft werden.

1 Integrative Wirtschaftsethik als Ideologiekritik

((2)) Der Verdacht auf Ideologie richtet sich bei prinzipienfesten Vertretern der Ökonomik leicht gegen “Nichtgläubige”. Deshalb sollte Ideologiekritik gegenüber dieser Anmaßung von Wissen aus vielen Blickrichtungen erfolgen. Die Wirtschaftsethik ist ein guter Prüfstein, ob es bei Verwendung des Begriffs um Ethik in der Wirtschaft geht oder nur um die marktwirtschaftliche Besetzung eines in der aktuellen Diskussion wichtigen Aspektes. P. U. zeigt auf, daß Wirtschaftsethik in der traditionellen Verwendung eine Vereinnahmung für das marktwirtschaftliche Paradigma darstellt. Es ist “ökonomische Theorie der Ethik”, Teil der Ökonomisierung, des “ökonomischen Imperialismus”, den P. U. mit Recht kritisiert. Deshalb möchte er dem Begriff als “integrative Wirtschaftsethik” eine neue Richtung geben. Der in der Ökonomik zum “wirtschaftlichen Mensch” (homo öconomicus) geschrumpfte wirtschaftende Mensch soll wieder seine eigentliche humane und soziale Dimension erhalten.

2 Integration durch den ethischen statt ökonomischen Menschen

((3)) Die Verpflichtung des wissenschaftlichen Denkens auf Logik und Rationalität verleitet dazu, die Welt, die Wirklichkeit so als Einheit zu denken, als ob sie logisch und rational wäre. Die Wirtschaftstheorie macht das Rationalitätsprinzip zum “ökonomischen Prinzip”, mit dem der ökonomische Mensch das Wohlfahrtsmaximum für die Gesellschaft erreicht. Die Ökonomik ernennt deshalb die ihr folgenden Ökonomen zu den berufenen Experten in allen Bereichen, wo es gilt, etwas zu optimieren (vgl. das soeben erschienene Lehrbuch von Homann und Suchanek 2000). Da auch die sozialistischen Theoretiker Rationalität beanspruchten, wurde die Rationalität in marktwirtschaftliche und planwirtschaftliche Rationalität geteilt – Rationalität von unten, nach dem Individualprinzip, und Rationalität von oben, nach dem Sozialprinzip. Max Weber erkannte die Notwendigkeit, zwischen Wert- und Zweck-Rationalität zu unterscheiden. Da aber auch Werte, konsequent gemäß Logik und Rationalität angewendet, den Menschen vergewaltigen können, unterschied Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Bei der letzteren wäre die “integrative Wirtschaftsethik” einzuordnen.

((4)) Diese Ergebnisse logischen und rationalen Denkens in einer sozialen Wirklichkeit, die kein durch Logik und Rationalität geschlossenes System darstellt, sollten zur Folgerung führen, nicht verschiedene Rationalitäten zu unterscheiden, sondern unterschiedliche Bereiche mit verschiedenen Werten und Zwecken, auf die sich Logik und Rationalität richten.

((5)) Der Ansatz der “integrativen Wirtschaftsethik” scheint dem Denkmuster einer Einheit durch Rationalität teilweise zu folgen. Zwar soll kein “idealer Gutmensch” vorausgesetzt werden (vgl. ((45)) ). Die “Vernunftethik des Wirtschaftens” unterstellt aber beim Menschen “sozialökonomische Rationalität” ((13)). Ihr folgen humane bzw. “moralische Personen” ((12)). Dabei gibt es eine Art Gleichgewicht – nicht “durch eine bestimmte inhaltliche Interpretation, sondern die formale Symmetrie der moralischen Verbindlichkeiten zwischen allen Personen”((11)). Die so entstehende “Vernunftethik des Wirtschaftens” führt zu einer “ethisch integrierten Erfolgsorientierung”, ohne Eigeninteresse und Egoismus abzulehnen ((12)). Das möchten aber die Kritiker der “integrativen Wirtschaftsethik” unterstellen.

((6)) Auch der “ethische Mensch” wird schon allein wegen des unterschiedlichen Vollkommenheitsgrades der Menschen nicht alle Facetten des menschlichen Handelns und Lebens erfassen können. Es ist zwar P. U. voll zuzustimmen, wenn er die Abschiebung der Ethik bei der traditionellen Wirtschaftsethik in die Rahmenbedingungen – analog der Behandlung der sozialen Probleme – kritisiert ((15)). Er braucht den Rahmen aber auch als “differenzverträgliche politische Ordnung” ((35)), um den “Primat lebensweltlicher Sinn- und Wertorientierungen vor dem ‘Eigensinn’ des marktwirtschaftlichen Systems zur Geltung” zu bringen ((34)). Angesichts dieser wichtigen Ergänzungsbedürftigkeit des “ethischen Menschen” durch politische Rahmenbedingungen erhebt sich die Frage, ob sich die Mühe lohnt, mit dem Ansatz der “integrativen Wirtschaftsethik” die traditionelle Wirtschaftsethik zu überwinden. Wenn der “Primat der Ethik” Ausgangspunkt ist ((13)), dann bedarf es keiner Rechtfertigung gegenüber der traditionellen Wirtschaftsethik, ihrer Dogmatik und Axiomatik. Dann empfiehlt sich, um Mißverständnisse zu vermeiden, der Verzicht auf den Begriff Wirtschaftsethik. Es geht um Ethik in der Wirtschaft und wie ihr zur Beachtung zu verhelfen ist.

3 Ethik in der Wirtschaft statt Wirtschaftsethik

((7)) Der von P. U. angesprochene Ordoliberalismus ((20)) wehrte sich zwar auch schon gegen den Ökonomismus und prägte den Begriff “Industriefeudalismus”. Als Ausweg wurde jedoch kein neuer Mensch vorausgesetzt, sondern ein “starker Staat”. Durch seine Ordnungs- und Prozeßpolitik sollte auch die nach Marktprinzipien organisierte Wirtschaft den Werten und Zwecken der Gesellschaft unterworfen werden (Blum 1969). Das kehrt die Beweislast wieder um gemäß dem Selbstverständnis der Freiheitlich Demokratischen Ordnung (Blum 1990, insbesondere S. 139 ff). Nicht die Politik muß sich durch Nachweis von Marktversagen gegenüber der Anmaßung von Wissen aus marktwirtschaftlicher Dogmatik rechtfertigen, sondern die Ergebnisse der Marktprozesse im Vergleich zu den Erwartungen der Gesellschaft entscheiden, ob Ordnungs- oder Prozeßpolitik erforderlich ist. Dieser Primat der Politik in einer Freiheitlich Demokratischen Ordnung ist dem Primat der Ethik, wie ihn P. U. fordert, ebenbürtig. Eine solche Korrektur der marktwirtschaftlichen Ordnung durchbricht freilich die traditionelle Alternative “Marktwirtschaft oder Planwirtschaft”, öffnet aber in der Praxis die pragmatische Entwicklung “dritter Wege”. Die Soziale Markt-
[S.572]
wirtschaft in Deutschland und ihr Wirtschaftswunder beweisen die Leistungsfähigkeit.

((8)) Die Überlegungen zum Ansatz einer “integrativen Wirtschaftsethik” führen zu dem Ergebnis, daß sie zur systemkonformen Ideologiekritik gegenüber der traditionellen Wirtschaftsethik durchaus ihr “eigenes Geschäft” ((48)) findet. Der Primat der Ethik läßt sich jedoch mit anderen Denkansätzen gegenüber dem verbreiteten Ökonomismus wirkungsvoller zur Geltung bringen. Das zwingt die Vertreter der Ökonomik, auch in einem anderen Paradigma zu denken. Sie werden es aber nach den bisherigen Erfahrungen verweigern. Da in dem Denkmuster “Markt oder Plan” die Alternative, wie gezeigt wurde, nur Planwirtschaft ist, führt das zum Ideologieverdacht. Das Einlassen auf die marktwirtschaftliche Dogmatik, wie es mit der Übernahme des Begriffs Wirtschaftsethik geschieht, gibt wenig Anlaß, das Paradigma zu verlassen. Eher sieht es sich bestätigt. Die Anerkennung von Rahmenbedingungen, die ethischen Anforderungen Rechnung tragen, ist jedoch eine Öffnung des Paradigmas. Das wird für praktische Politik nicht genutzt, wenn Hoffnung auf einen “ethischen Menschen” geweckt wird.

Literatur

Adresse

Prof. Dr. Reinhard Blum, Varnkamp 6, D-32549 Bad Oeynhausen