Prof. Dr. Elmar Altvater

Kapitalismus. Zur Bestimmung, Abgrenzung und Dynamik einer geschichtlichen Formation

Der Name der Rose

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Der Begriff ist nicht so alt wie die Gesellschaftsformation, die heute als kapitalistisch” bezeichnet wird. Die Zeitgenossen haben das “kapitalistische Weltsystem”, dessen Entstehung zumindest im europäischen und “neoeuropäischen” Raum (also in Europa und seinen weltweit verstreuten Siedlungskolonien) mit den großen Entdeckungen des 15. Jahrhunderts angesetzt werden kann, nicht als solches wahrgenommen und daher als “Kapitalismus” benannt. Die Rose war da, ihr Name noch nicht. In Diderots Enzyklopädie und seinem “System der menschlichen Kenntnis” (begonnen 1750) ist zwar das Stichwort “Ökonomie” vertreten (verfaßt von Jean Jaques Rousseau); von “Kapitalismus” oder “kapitalistischer Ökonomie” jedoch ist keine Rede. Rousseau verhandelt auch eher die Rolle des Staates bei der Gestaltung einer Ökonomie, die dem allgemeinen Volkswillen entsprechen solle, und klammert eine Diskussion der “privaten Wirtschaft” explizit aus; sie erschien ihm weniger wichtig als ein öffentliches Regelsystem der ökonomischen Gestaltung der Gesellschaft (Rousseau 1977). Heute ist das umgekehrte Verständnis von Ökonomie vorherrschend: als einer vor allem privaten Veranstaltung, aus der sich der Staat so weit wie möglich heraushalten solle.

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Auch Adam Smith und David Ricardo kennen den Begriff "Kapitalismus" nicht, und selbst im "Kapital" von Marx findet man den Begriff nur ein einziges Mal (im 2. Band, 4. Kapitel, MEW 24: 123). Proudhon und Louis Blanc verwenden den Begriff um die Jahrhundertmitte in Frankreich und Rodbertus führt ihn etwa zur gleichen Zeit in Deutschland ein. Der späte Engels verwendet das Wort mehrfach und Marx benutzt ihn in seinen Briefen an die russische Volkstümlerin Vera Sassulitsch aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts; darin ging es um die Frage, ob im zurückgebliebenen, nicht durchkapitalisierten Rußland die "kapitalistische Phase" auch revolutionär übersprungen werden könne1 . Allerdings wird das Adjektiv “kapitalistisch” von Marx zur Qualifizierung der “auf dem Wert (und mithin auf dem Kapital) beruhenden” Produktionsweise und Gesellschaftsformation verwendet. “Zwar drängt dieses industrielle Kapital dazu, sich als Prinzip allen Produzierens durchzusetzen, zu einer ,Totalität‘ zu werden, in diesem Sinne also – wenn man so will – zum umfassenden ‚Kapitalismus‘...” (Schöler 1999: 101), doch hatte Marx gegen die im Begriff “Kapitalismus” möglicherweise angelegten Tendenzen einer Verdinglichung von Sprache und Bewußtsein offenbar Vorbehalte.

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Der Begriff des Kapitals taucht sehr früh, bereits im Mittelalter (Braudel 1986b: 248ff) auf. Allerdings erlangt er erst nach und nach seine ihm später zukommende Bedeutung: als Geldkapital, als Produktionsmittel, als ein spezifisches soziales Verhältnis. An dessen einem Ende befindet sich der “Kapitalist”, und diese Bezeichnung hat in der Regel einen “pejorativen Beigeschmack, wie die Besitzer ‚pekuniärer Vermögen‘, die laut Quesnay (1759) ‚weder König noch Vaterland kennen‘” (Braudel 1986b: 252). Daß Marx sein Hauptwerk “Das Kapital” nennt, verweist auf die Bedeutung, die dem Kapital in der modernen Gesellschaft zukommt.

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Der Kapitalismus ist aus anderen Produktionsweisen (in Europa aus der feudalen Ordnung) hervorgegangen und ihm werden andere folgen, so nicht nur Marx. Die Gewißheit ergibt sich aus der Analyse der Dynamik kapitalistischer Gesellschaften, die immer wieder an Entwicklungsgrenzen führt und dann Krisen provoziert. Adam Smith war in dieser Frage noch ganz optimistisch. Ökonomische Krisen waren ihm zwar nicht unbekannt (die Krisen auf dem Festland nach dem siebenjährigen Krieg waren auch in England zu spüren), doch waren Naturkatastrophen und Mißernten, die Verwüstungen der Kriege und Krankheiten, die nicht mit der kapitalistischen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden konnten, wichtiger. Unsicherheit, Instabilitäten gab es, aber sozusagen als eine “condition humaine”, nicht als Ausdruck der Wirkungsweise einer gesellschaftlichen Formation. Daher sah er vor allem die Steigerung des Wohlstands der Nationen, wenn – durch die “unsichtbare Hand” des Marktes gelenkt – die Produktivkräfte infolge vertiefter Arbeitsteilung vorangetrieben werden. Doch schon David Ricardo und Sismondi beobachteten wenige Jahrzehnte später zu Beginn des 19. Jahrhunderts die beunruhigenden Krisensymptome, die mit der Industrialisierung in Verbindung gebracht werden mußten. Denn die so positiv bewertete Steigerung der Produktivität der Arbeit durch Entwicklung der Arbeitsteilung (auch auf internationaler Ebene) hat Freisetzungen von Arbeitskräften zur Folge, insbesondere wenn der steigenden Produktion die Konsumnachfrage nicht folgt. So entstehen eine Nachfragelücke der Unterkonsumtion und eine “überflüssige” Bevölkerung, die zum Nährboden von sozialem Unfrieden werden kann. Für Ricardo war dies noch kein entscheidendes Problem, auch wenn er darauf hinwies. Die “soziale Frage” kam erst später zu Bewußtsein. Die kapitalistische Produktionsweise erweist sich also als ein sehr dynamisches, aber von Anbeginn an als ein instabiles System, das Konjunkturen ebenso aufweist, wie es Krisen hervorbringt.

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Die widersprüchliche und krisenhafte Natur der neuen Gesellschaft wird erst von Marx systematisch analysiert. Ähnlich wie Adam Smith und David Ricardo geht auch Marx von der Ware als “Zellform” des Kapitals aus, analysiert das Geld, aus dem begriffslogisch das Kapital hergeleitet wird. Dessen “Bewegungsgesetze” beansprucht er in den drei Bänden des “Kapital” zu enthüllen (MEW 23: 15). Die begrifflich identifizierten Widersprüche der Produktionsweise spitzen sich periodisch zu Krisen zu, die keineswegs das Ende des Kapitalismus einläuten, wie auch Marx und Engels in den frühen 50er Jahren noch dachten, sondern eine Art “Jungbrunnen” des Systems darstellen. Krisen werden “transformistisch” (Gramsci) im Zusammenspiel von herrschenden und subalternen Klassen überwunden: Die herrschende Klasse paßt ihr hegemoniales Projekt an neue historische Herausforderungen technisch, organisatorisch, politisch an und die subalternen Klassen sichern mit den dem System in sozialen Auseinandersetzungen abgerungenen Reformen dessen Funktionsweise. Der Kapitalismus, so Braudel (1986a: 695), “nährt sich vom Wandel, paßt sich, nach Bedarf ausbaufähig oder zu Einschränkungen imstande, den wirtschaftlichen Möglichkeiten jeder Epoche und jeder Weltgegend an”. Schlußfolgerung: “Der Kapitalismus, davon bin ich ... überzeugt, kann nicht durch einen ‚endogenen‘ Verfall zugrundegehen; nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative könnte seinen Zusammenbruch bewirken ...” (Braudel 1986a: 702). Der Kapitalismus also ein ultrastabiles System?

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Von der Entfaltung des Kapitalbegriffs zur Bezeichnung “Kapitalismus” ist es ein gehöriger Schritt, der erst später erfolgt, nämlich mehr als hundert Jahre nach der industriellen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Werner Sombart führt den Kapitalismus-Begriff in seine epochale Analyse der historischen Entwicklung vom Vorkapitalismus über den “Frühkapitalismus” zum “Hochkapitalismus” ein (Sombart 1916/1969). Im “Hochkapitalismus” hat sich die kapitalistische Gesellschaftsformation als System gegenüber anderen “Wirtschaftsstilen” und “Wirtschaftsgesinnungen” schließlich durchgesetzt. Das kapitalistische Prinzip erfaßt alle Fasern und Adern der Gesellschaft; erst jetzt wird diese mit ihren makrosozialen Klassenformationen und den kapillaren Mikrostrukturen tatsächlich als kapitalistische Gesellschaftsformation erkennbar. Die gesellschaftliche Formation hat sich nun erst bis zur Kenntlichkeit entwickelt.

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Sehr bald, spätestens nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution, erhält der Kapitalismus-Begriff einen polemischen Unterton in den Analysen von kritischen Autoren in der marxistischen Tradition. Kapitalismus wird als negatives Gegenstück des Sozialismus wahrgenommen. Der revolutionäre Lenin analysiert den modernen Kapitalismus als Imperialismus (Lenin 1917) und greift damit einen methodischen Ansatz auf, den zuvor der austromarxistische und später reformistische Rudolf Hilferding im “Finanzkapital” um die Jahrhundertwende (Hilferding 1968) entwickelt hatte: Marx habe im “Kapital” die kapitalistische Produktionsweise zu Zeiten der Konkurrenz analysiert und dabei aufgezeigt, wie im Zuge von Konzentration und Zentralisation des Kapitals und mit der Entstehung großer Aktiengesellschaften die Konkurrenz aufgehoben würde und zum Monopol, zur Herausbildung einer Verflechtungsstruktur zwischen industriellem Kapital und Finanzkapital, führe. Kapitalistische Akkumulation strebe obendrein imperialistisch über die nationalstaatlichen Grenzen. Kolonien dienten als Anlagesphären von überschüssigem Kapital, als auszubeutende Lagerstätten von Rohstoffen und als Absatzmärkte für die in den Metropolen überproduzierten Waren. Die ökonomische Konkurrenz, so Lenin, transformiere sich in politische Konkurrenz, die auch mit militärischen Mitteln ausgetragen würde. Der Erste Weltkrieg wurde auf dieser Folie als ein imperialistischer Krieg interpretiert. Der moderne monopolistische Kapitalismus sei besonders aggressiv und obendrein würde er den Fortschritt blockieren. Dieser Auffassung widersprach später Schumpeter; denn monopolistische Großunternehmen würden den technischen Fortschritt gerade institutionalisieren (Schumpeter 1950: 143-175) und so dem Sachverhalt Rechnung tragen, daß “der Kapitalismus ... von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung” ist und “daß die Großunternehmung zum kräftigsten Motor dieses Fortschritts und insbesondere der langfristigen Ausdehnung der Gesamtproduktion geworden ist” (Schumpeter 1950: 136; 174f.).

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Eugen Varga nahm Lenins Begriff des “staatsmonopolistischen Kapitalismus” auf und entwickelte ihn weiter2, um den Kapitalismus des 20. Jahrhunderts als ökonomisches System zu analysieren, das anders als im 19. Jahrhundert auf die staatliche Regulation angewiesen sei. Die regulierende Konkurrenz des Marktes ist im Monopol ja außer Kraft gesetzt; das entstandene Regulierungsdefizit kann nur der Staat ausfüllen. Es komme zur Verschmelzung ökonomischer Interessen und der Staatsklasse, die sich zur “Macht der Hundert” verdichte3.

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In sozialdemokratischen Kapitalismusanalysen wird nicht nur eine prinzipielle politische Reformierbarkeit des Systems unterstellt, wenn nur die Arbeiterklasse und ihre Organisation (die sozialdemokratische Partei) im demokratischen Staat die Macht erringen (so Hilferding in seiner berühmten Rede auf dem Kieler Parteitag der Sozialdemokratie 1927). Der Kapitalismus organisiere sich und so werde das Objekt der Regulierung erzeugt, auf das sich der sozialdemokratische Staat als Subjekt der Regulierung beziehen könne. Ein Zusammenbruch des Systems, von dem Rosa Luxemburg oder Henryk Grossmann ausgingen, sei nicht zu erwarten (vgl. zu dieser Kontroverse: Rosdolsky 1968). Keine Krise dauert ewig. Im Verlauf der Krisen werden technische Innovationen durch “dynamische Unternehmer” realisiert (diesen Sachverhalt bemüht Joseph A. Schumpeter für die Grundlegung seiner Theorie eines “langen Zyklus” der kapitalistischen Entwicklung); Krisen bieten auch die Gelegenheit für “Bereinigungen” in den Proportionen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses: zu Lasten von Löhnen und Arbeitsbedingungen und zu Gunsten der Profite. Krisen sind also Phasen der “schöpferischen Zerstörung” (Schumpeter 1950: 134ff). Im 20. Jahrhundert hat es sich mehrfach gezeigt, daß dieser Effekt nur mit harten politischen Maßnahmen der Unterdrückung der Arbeitenden erreicht werden konnte: während der faschistischen und nationalsozialistischen Ära und in vielen Ländern der Dritten Welt. Der entscheidende Effekt der “Bereinigungskrise” ist die Steigerung der Profitrate. Die Akkumulationsdynamik des Systems wird angeregt. Die Profitrate ist also Steuerungsgröße des ökonomischen Systems – gleichgültig, wie sie berechnet wird: als Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, als Rendite, Profitrate oder als Shareholder Value.

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Die Rose hatte ihren Namen, und es dauerte nicht lange, bis diejenigen kamen, die ihr den Namen wieder aberkennen wollten. Um Begriffe werden Auseinandersetzungen geführt, im Falle des Kapitalismusbegriff sind die Auseinandersetzungen besonders hart. Die erwähnten gesellschaftskritischen Implikationen des Kapitalismus-Begriffs und die Betonung seiner historischen Ablösung durch einen wie auch immer gearteten Sozialismus haben dazu beigetragen, daß im deutschen Sprachraum der Begriff “Kapitalismus” gemieden wird und statt dessen eher verschämt von “Marktwirtschaft” die Rede ist, mit dem Attribut “sozial” oder auch nicht – ganz anders als im angelsächsischen und romanischen Sprachraum4. Doch die Begriffswahl ist die Folge eines im Vergleich zu den bisher skizzierten Ansätzen fundamental unterschiedlichen Herangehens an die Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Ökonomie wird als eine Rationalveranstaltung gedeutet – nicht der Natur wie im philosophischen Rationalismus oder des Staates wie bei Hegel, sondern der bürgerlichen Gesellschaft. Auf dem Markt treffen private wirtschaftliche Interessen aufeinander und werden dort ausbalanciert. Ausgangspunkt der Analyse ist nicht die Gesellschaft, sondern das rational entscheidende und interessengeleitet Nutzen maximierende Individuum. Es nimmt seine Umwelt über die Signale des Marktes (Preise) wahr und reagiert darauf so, daß letztlich in Verfolgung der “private vices” doch “public benefits”, eine pervertierte Abart der volonté générale Rousseaus, herauskommen. Diese Utopie ist bereits von Bernard de Mandeville um 1700 in der “Bienenfabel” (de Mandeville 1957) entwickelt worden. Unter dem von Schumpeter (1908) so bezeichneten “methodologischen Individualismus” wird sie streng (mathematisch) formalisiert und zur Gewißheit gehärtet, daß nur die “Informationsverarbeitungsmaschine Markt” (von Hayek 1968) in der Ökonomie jene Rationalität gewährleiste, die zur Mehrung des Wohlstands der Nationen benötigt wird. Wenn Ausgangspunkt und Zentrum der Analyse das Individuum und dessen Rationalität sein sollen, kann die Marginalanalyse ohne Skrupel angewendet werden. In der Gesellschaftstheorie von Marx freilich geht es um “gesellschaftlichen Durchschnitt”. Denn dieser ist in der “auf dem Wert beruhenden Produktionsweise” für Wertbildung, Verwertung und erweiterte Reproduktion relevanter als die individuelle Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit und ohne sozialen Bezug. Auch kann es kein Kriterium von Gerechtigkeit geben ohne gesellschaftliche Normen und eine Vorstellung von einem gesellschaftlichen Durchschnitt. Doch die moderne Ökonomie folgt der Idee vom Individuum, das mit beschränktem Budget über alternative Wahlhandlungen zu entscheiden hat. 

Entbettungsvorgänge oder die Sachzwänge der kapitalistischen Ökonomie für Gesellschaft und Natur

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Der Begriff des “Kapitalismus” charakterisiert ein ökonomisches System (des Marktes), das sich aus der Gesellschaft “entbettet” hat (Polanyi 1978) und nach seiner eigenen markt- und geldwirtschaftlichen Logik, nach den “Bewegungsgesetzen” (Marx) des Kapitals, funktioniert. Karl Polanyi vertritt in seiner Schrift über die “Great Transformation” zur Marktwirtschaft im England des 18. und 19. Jahrhunderts

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„die These, daß die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutete. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt. Die Gesellschaft ergriff zwangsläufig Maßnahmen zu eigenem Schutz, aber alle diese Maßnahmen beeinträchtigten die selbstregulierende Funktion des Marktes, führten zu einer Desorganisation der industriellen Entwicklung und gefährdeten damit die Gesellschaft auch in anderer Weise. Dieses Dilemma zwang die Entwicklung des Marktsystems in eine bestimmte Richtung und zerrüttete schließlich die darauf beruhende Gesellschaftsstruktur” (Polanyi 1944/ 1978: 19f).

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In der langen Menschheitsgeschichte vor Heraufkunft der “Moderne” ist “die Wirtschaft des Menschen ... in seine gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet. Der Übergang von dieser Form zu einer Gesellschaft, die, umgekehrt, im Wirtschaftssystem eingebettet ist, war eine gänzlich neuartige Entwicklung” (Polanyi 1979: 135). Erst Arbeitsmarkt, Goldstandard und Freihandel verkehrten im ausgehenden 18. und dann erst recht im 19. Jahrhundert das “vormals harmlose Marktmuster ... zu einer gesellschaftlichen Monstrosität” (Polanyi 1979: 138). Das ökonomische System verselbständigt sich so sehr, daß schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse “im ökonomischen System eingebettet waren” (Polanyi 1979: 141) und nicht umgekehrt die Ökonomie eine gesellschaftliche, möglicherweise staatlich moderierte Veranstaltung (wie Rousseau sich dies vorstellte – Rousseau 1977) geblieben wäre.

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Nicht der Markt an sich ist nach der industriellen Revolution das historisch Neue. Denn Märkte gibt es schon im Altertum, doch war der Warenhandel eher “wie ein Wasserglas ... in einem weiten und trägen Meer von Nachbarschaftsleben” (Polanyi 1986: 13). Seit der Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft ist das historisch Neue die allumfassende Reichweite und das enorme Tempo des Markthandelns, des Austausches von Waren5. Mit der “Reichweite” ist nicht nur die physisch-räumliche Expansion in die Weiten des Planeten Erde gemeint, sondern auch der funktional-räumliche Prozeß der Integration (Inwertsetzung) von allem und jedem in das System kühl kalkulierenden marktmäßigen Austauschs und der ihm eigenen Rationalität der Kapitalrechnung (Max Weber). Es wird nicht mehr nur der von Marx so bezeichnete “ordinäre Warenpöbel” auf dem Warenmarkt gegen Geld getauscht. Auch die Arbeitskraft wird in eine Ware verwandelt, die auf dem Arbeitsmarkt ver- und gekauft wird. Selbst das Geld des Marktes, von den Ökonomen in der Regel als bloßes Tauschmittel (Zirkulationsmittel), daher als “Geldschleier” (miß)verstanden, wird zur Ware. Ein Geldmarkt entsteht6, der heute als Finanzmarkt globale Ausdehnung besitzt und besonders aufschlußreich die Wucht der Entbettung dokumentiert. 


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Erstens üben die Preise auf Finanzmärkten, die Zinsen nämlich, eine oftmals willkommen geheißene “harte Budgetrestriktion” des Handelns von Wirtschaftssubjekten aus, zweitens werden Finanzmärkte zu Bewertungsinstanzen von Regierungshandeln, so daß ihnendie Bedeutung einer “fünften Gewalt” (neben Legislative, Exekutive, Judikative und Medien) beigemessen wird. Drittens haben die modernen Finanzinnovationen die Möglichkeit eröffnet, Werte zu mobilisieren, die noch nicht einmal als Werte generell akzeptiert werden: “Catbonds”, also Katastrophenanleihen, emission-trading, also Handel mit Verschmutzungsrechten, oder die eher traditionellen Kriegsanleihen. Viertens aber haben die Schuldenkrise der 80er Jahre und die Finanzkrisen der 90er Jahre des 20. Jh. einen Eindruck von den sozialen, politischen und ökologischen Kosten vermittelt, die der entbettete “Geldfetisch” in Gesellschaften verursachen kann, die von einer Finanzkrise betroffen werden.

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Schließlich aber werden auch Stücke der Natur vermarktet und so einer Logik der Inwertsetzung und Verwertung unterworfen, die mit den natürlichen Bedingungen des Lebens so gut wie gar nichts zu tun hat. Inwertsetzung von Teilen der Natur heißt in aller Regel ihre Herauslösung aus den natürlichen Gegebenheiten und ihre Integration in den kapitalistischen Verwertungsprozeß als ein Rohstoff. Der Wert wird vom “Unwert” wie das Kraut vom Unkraut isoliert; dieser Prozeß wird als Externalisierung bezeichnet. Doch rächt sich die selektive Inwert- bzw. Inunwertsetzung, da sich die menschliche Gesellschaft doch nicht völlig aus den Kreisläufen der Natur entbetten kann7. Das gesellschaftliche Naturverhältnis im Kapitalismus ist naturvergessen und die im Zuge der Entbettung ehrgeizig angestrebte Naturbeherrschung kann nicht gelingen. Hier gerät die Entbettung an eine Schranke, auch wenn sich ein florierender Immobilienmarkt und ein Markt für Naturressourcen herausbilden. Eine Kompromißformel ist die der Forstwirtschaft entnommene Regel der Nachhaltigkeit: die Natur darf inwertgesetzt werden, aber nur so, daß sie dauerhaft verwertet werden kann.

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Das Leben der Menschen wird also vom Markt abhängig und das Denken wird durch die spezifische Rationalität des Markthandelns bestimmt. Mit der Herausbildung kapitalistischer, bürgerlicher Verhältnisse, der Trennung von Natur und Gesellschaft, der Doppelung von Gesellschaft und Staat können Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften in disziplinärer Arbeitsteilung entstehen. Wenn diese vor allem beanspruchen, ein Regelwerk für die Funktionsweise der entbetteten Ökonomie auszuarbeiten und darin ihre wissenschaftliche Befriedigung finden, kann die reine Ökonomie der Neoklassik das Feld vorfinden, auf dem sie mit ihren gesellschaftsfernen, formalen Regeln unschlagbar ist: Die Ökonomie als Wissenschaft entbettet sich aus dem Kontext der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften und reduziert sich auf ein Regelwerk rationalen Entscheidens von zeit- und raumlosen Individuen8, die sich lediglich in Gestalt von Marktagenten, die alle den gleichen Regeln folgen, wahrnehmen können. Nirgendwo ist diese extrem reduzierte Rationalität ausgeprägter als im ökonomischen Denken, speziell in der heute weltweit dominanten Neoklassik, die dem Postulat des “methodischen Individualismus” folgt und – mit entsprechenden Politikmustern versetzt – als “Neoliberalismus” bezeichnet wird9.

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Dies ist die Basis für den Anspruch der Ökonomie als Wissenschaft, Aussagen über jegliches menschliche Verhalten, sofern es rationalen Erwägungen folgt, machen zu können: über Wahlhandlungen von Konsumenten ebenso wie über den Sinn der Eheschließung oder über Investitionsentscheidungen von Unternehmern. Die Ökonomen empfinden sich als Hohepriester der Moderne, und mit dem Siegeszug des Neoliberalismus werden sie als solche auch wahrgenommen und als die Analysten verehrt, die die unübersichtlichen Verhältnisse auf den Finanzmärkten in eine falsche Übersichtlichkeit verklären helfen. Schon in den 60er Jahren hat Kenneth Boulding die Übergriffe der Ökonomen in andere Sozialwissenschaften als “Imperialismus der Ökonomie” bezeichnet. Damals wurde die Polemik kaum bemerkt. Heute werden Bücher mit dem Titel “Terror der Ökonomie” zu Bestsellern (Forrester 1996).

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Die Attraktivität liegt auch daran, daß die Rationalität des Marktes sehr einfach ist. Sie läßt sich binär (mit dem 0-1 Code von “Zahlen” und “Nicht-Zahlen”) beschreiben (Luhmann 1987; 1990) und in einer einfachen Ziel-Mittel-Relation eindimensional ausdrücken: Monetär bewertete Mittel werden vorgeschossen und die Ergebnisse müssen (in der gleichen monetären Einheit gemessen) über den Vorschuß hinaus einen Überschuß eintragen10. In der Zeit bedeutet dieser Überschuß nichts anderes als Akkumulation des Kapitals, Wachstum des Sozialprodukts. Als Folge des Wachstums haben sich im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben im Zeitalter des Kapitalismus so radikale Veränderungen mit so hohem Tempo und daher in so kurzer historischer Zeit vollzogen wie niemals zuvor in der menschheitlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

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Denn bis zur “Entbettung” im Gefolge der industriellen Revolution war auch das Wirtschaftswachstum an natürliche Zuwachsraten gebunden und daher über die Jahrhunderte hinweg niedrig, jedenfalls verglichen mit den hohen Wachstumsraten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Langfristige Wachstumsraten von jahresdurchschnittlich 0,2 vH “was a good result” (Crafts 2000: 13) und selbst Großbritannien erreichte in den Hochzeiten der industriellen Revolution zwischen 1780 and 1830 nicht mehr als 0,4 vH jährliches Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich die Lage. Die durchschnittlichen Wachstumsraten steigen und mit ihnen der Wohlstand der (industriellen) Nationen. Dies ist eine Folge der “Entbettung” der kapitalistischen Marktökonomie aus natürlichen und gesellschaftlichen Ligaturen, die der ökonomischen Dynamik Grenzen gesetzt hatten.

Produktivitätssteigerung mit fossilen Energieträgern – die historische Mission des Kapitalismus

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Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Formationen ist folglich der industrielle Kapitalismus durch die Permanenz des Wandels und der Steigerung von Effizienz und Produktivität charakterisiert. Der soziale Wandel wird zur Normalität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Carlo Cipolla hat dies sehr plastisch hervorgehoben, indem er den englischen Dichter Waddington zitiert:

„ ...'Wenn ein alter Römer achtzehn Jahrhunderte später wieder auf die Welt gekommen wäre, hätte er sich in einer Gesellschaft wiedergefunden, die er ohne Schwierigkeit verstanden hätte. Horaz wäre sich als Gast bei Horace Walpole nicht deplaziert vorgekommen, und Catull hätte sich zwischen den Wagen, Damen und brennenden Lampen nachts im London des 18. Jahrhunderts zu Hause gefühlt'. Diese Kontinuität wurde zwischen 1750 und 1850 unterbrochen ... Die industrielle Revolution [rief] wohl innerhalb von drei Generationen eine unwiderrufliche Unterbrechung im Geschichtsablauf hervor...“ (Cipolla 1985: 2).

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Entbettung ist also gleichbedeutend mit einer Beschleunigung aller gesellschaftlichen Prozesse11. Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, auch Kultur und Natur werden, wie es Marx ausdrückte, unter das Kapital “reell subsumiert” (vgl. MEW 23, 14. Kapitel), und zwar keineswegs konfliktfrei, manchmal gewaltsam. Der geldwirtschaftliche Überschuß (der Profit und Zins) wird nicht mehr durch Raub und Wucher oder andere Formen des “ungleichen Tausches” angeeignet, während die Erzeugung des Überschusses an die Langsamkeit der jeweiligen Produktionsweise gebunden bleibt, sondern systematisch industriell als Mehrwert produziert. Der Überschuß entstammt also nicht den “langsamen” prä-kapitalistischen Produktionsweisen; der Kapitalismus erzeugt seine eigene technische, organisatorische, ökonomische und politische Basis, schafft dabei die ihm angemessene soziale Struktur, die Denkmuster, paßt das gesellschaftliche Naturverhältnis den Beschleunigungszwängen an. Die kapitalistische Ökonomie wird schneller und sie dehnt sich. Entbettung dieser Ökonomie heißt, daß sich Natur und Gesellschaft dem Tempo anpassen und sich “kleiner machen” müssen, weil sich die kapitalistische Ökonomie mit der ihr eigenen Infrastruktur und im Gefolge der Inwertsetzung von Ressourcen extrem ausdehnt. Und dies geschieht nicht hier und da, sondern systematisch in der Methode und systematisierend in Raum und Zeit. Die kapitalistische Produktionsweise bringt – wie wir heute wissen – die Tendenzen der Globalisierung hervor.

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Wenn auch der Logik des Geldes in der Zirkulation folgend, ist der Kapitalismus eine spezifische Produktionsweise mit ihr angepaßten Produktivkräften zur Erhöhung der Überschüsse in der Form des Mehrwerts. Es ist nicht nur eine logische Abfolge, wenn Marx den Übergang vom Geld zum Kapital bestimmt, sondern zugleich die Beschreibung einer sozialen Realität: Vor dem Kapitalismus, darin ist Braudel zuzustimmen, gab es schon viele Jahrhunderte eine Geldwirtschaft. Doch das Attribut “kapitalistisch” verweist auf die sozialen, technischen, ökonomischen Formen, mit denen die Produktivkräfte so gesteigert werden, daß das Geld ein umfassendes soziales Verhältnis konstituiert, ein Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit.

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Die Höhe des Überschusses über die Produktionsinputs einschließlich der Arbeitskosten hängt nicht nur von Arbeitszeit, Arbeitstempo und Höhe der Löhne ab, sondern vor allem von der Produktivität. Im Kapitalismus ist also anders als in vorangegangenen Gesellschaftsformationen ein wirksamer Mechanismus “eingebaut”, der Produktivitätssteigerungen erzwingt – und zugleich ermöglicht. Adam Smith und David Ricardo haben auf die Spezialisierungsmöglichkeiten infolge der Marktausdehnung national und international und die damit ausgelösten Produktivitäts- und Wohlfahrtseffekte verwiesen. Ricardos Theorem von den komparativen Kostenvorteilen, mit dem die wohlstandsfördernde Wirkung der Arbeitsteilung durch globalen Freihandel begründet wird, ist bis heute der vielleicht wichtigste Hauptsatz der Wirtschaftswissenschaft. Produktivitätssteigerungen durch technische, soziale, finanzielle Innovationen haben eine historisch einzigartige Konstellation ermöglicht. Die Wirtschaft kann wachsen und zwar wesentlich schneller als die Bevölkerungszahl zunimmt.

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Zur Erreichung dieser Unabhängigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung von sozialen und natürlichen Schranken bedarf es sozialer Voraussetzungen, die im Zuge der “ursprünglichen Akkumulation” gewaltförmig hergestellt wurden. Bevor die ökonomische Logik des Kapitalismus sich weltumspannend auszubreiten vermag, sind gesellschaftliche Formen vernichtet worden, die ihr im Wege standen, und dabei sind zugleich die sozialen Subjekte erzeugt worden, die den Kapitalismus “tragen”: die Kapitalisten und die Arbeiter, einschließlich jener Schichten und Bewegungen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen – wobei es mit der Zuordnung seine eigene soziologische Bewandtnis hat12.

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Die “ursprüngliche kapitalistische Akkumulation” wird von Marx als eine Geschichte der gewaltsamen Scheidung der Gesellschaft in “haves” (Land- und Kapitalbesitzer) und “haves-not” (die “doppelt freien” Lohnarbeiter, politisch befreit, aber auch frei von Produktionsmitteln) geschrieben. Inzwischen weiß man, daß die Gewaltsamkeit des Prozesses durch die großen Naturkatastrophen des ausgehenden Mittelalters und die großen Seuchen (die Pest) gestützt worden ist. Menschen verließen das Land, weil es nicht mehr genügend Nahrung bot, und nicht nur, weil die Pächter das Land einzäunten und die Bauern vertrieben. Sie ließen Schafe auf das ehemalige Ackerland, weil dieses zum Teil bereits verlassen war. Es gab nichts mehr her und auf den Brachen konnten sich nur noch genügsame Tiere ernähren, die zur Nahrungsquelle der Menschen wurden. In dieser Zeit beginnen die Menschen Westeuropas, um den Hunger zu befriedigen, vermehrt Fleisch zu essen (dazu: Bergmann 2000). Die Schafweiden erfüllten also eine doppelte Funktion: sie lieferten Nahrung, die in vegetarischer Form wegen der Auswirkungen der “kleinen Eiszeit” Mangelware war, und den Rohstoff Wolle für die entstehenden Manufakturen, in die die verarmten und freigesetzten Bauern mit politischer Gewalt getrieben wurden. Sozial- und Naturgeschichte wirken zusammen. Die Klimageschichte der vergangenen Jahrhunderte kann zeigen, welche revolutionären Auswirkungen Klimaschwankungen in der Gesellschaft auslösen können; daß die Wirkungen des Treibhauseffekts im 21. Jahrhundert weniger revolutionär sein werden als die Auswirkungen der “Kleinen Eiszeiten”, ist wenig wahrscheinlich.

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Der Kapitalismus hat also nicht nur seine eigene Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sondern auch seine eigene Naturgeschichte, und die läßt ihn bis heute nicht los. Einerseits ist das System in seinem selbstreflexiven Autismus der Produktivitätssteigerung völlig naturblind, andererseits reorganisiert es inzwischen in globalen Ausmaßen das gesellschaftliche Naturverhältnis – bis zur Katastrophe. Eine entscheidende Ursache ist darin zu sehen, daß im Verlauf der industriellen Revolution die neuen maschinellen Antriebsmechanismen, die die Potenz der Arbeit so sehr steigerten, mit fossilen Energieträgern (Kohle, später Erdöl und Erdgas) befeuert wurden. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte holten sich die Menschen nicht mehr die Energie von der Sonne, sondern aus der Erdkruste, wo über hunderte von Millionen Jahren biotische Energie mineralisiert worden ist, die nun in wenigen Jahrhunderten verbrannt wird. Die Lager sind begrenzt, und die Verbrennungsprodukte (vor allem CO2) heizen das Erdklima auf. Der revolutionäre Bruch des Kapitalismus mit den vorangegangenen Gesellschaftsformationen ist auch darin zu sehen, daß die Erde in ein energetisch geschlossenes System verwandelt worden ist, um der “Mission des Kapitalismus” zu genügen, nämlich die Produktivität zu steigern. Die industrielle Revolution ist in diesem Sinne auch eine “prometheische Revolution” (Georgescu-Roegen 1971; Altvater/ Mahnkopf 1999: 448ff), d.h. mit vergleichsweise geringem Energieaufwand können um ein Vielfaches ergiebigere Energieträger gefördert und mit den entsprechenden Energiewandlungssystemen (Debeir/ Déléage/ Hémery 1989) in Funktion gesetzt werden – um die Arbeitsproduktivität und daher auch den “Wohlstand der Nationen” zu steigern.

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Für den kapitalistischen Produktionsprozeß, und selbst für die Landwirtschaft, spielt die Flußenergie der Sonne eine verschwindend kleine Rolle gegenüber der Bedeutung, die fossile Energieträger übernommen haben. Es ist unvermeidlich, daß die thermodynamische Entropie ansteigt. Oder: Dem Kapitalismus ist als Produktionsweise nur ein kurzes Leben beschert, es sei denn, er vermag es, sich in einen Kapitalismus zu wandeln, der sich energetisch öffnet und auf solare Energiequellen zurückgreift (dazu Altvater 1992; Scheer 1995/ 1999). Doch dies ist eher unwahrscheinlich; denn der Erfolg der Entbettung besteht ja gerade darin, die Schranken der beschleunigten Akkumulation, die von der langsamen Natur gesetzt sind, überwunden zu haben.

Gesellschaftliche Systematisierung und Systemrisiko

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Die gesellschaftlichen Formen verändern sich in der Geschichte des Kapitalismus; sie passen sich neuen historischen Herausforderungen an, wenn in den tradierten Formen Produktivitätsfortschritte blockiert werden. Auch die Inhalte des Kapital- und Kapitalismusbegriffs wandeln sich, wenn sich aus dem Manufaktursystem die “große Industrie” und aus dem Industriesystem der Fordismus herausbilden. In diesen Jahrzehnten sind wir Zeitzeugen – und als solche in der Wahrnehmungsperspektive verengt – des Übergangs zu einer “post-fordistischen” Regulationsweise. Getrieben von der Konkurrenz, heute auf globalen Märkten, werden die sozialen und ökonomischen Konfigurationen des Produktions- und Reproduktionsprozesses radikal und nicht ohne heftige Konflikte transformiert. Ein neues Klassengleichgewicht bildet sich in diesem Prozeß des von Gramsci so bezeichneten “Transformismus”. Der Kapitalismus entwickelt sich also nicht linear und auch nicht wellenförmig, sondern in Sprüngen und in Phasen. Es handelt sich nicht, wie in der Theorie der “langen Wellen” angenommen, um konjunkturelle Höhe- und Tiefpunkte, die sich lediglich durch ihre jeweilige technologische Basis unterscheiden, sondern um unterschiedliche Weisen der Regulation der sozialen Verhältnisse, die den Kapitalismus konstituieren: des Geldverhältnisses, des Arbeits- und Lohnverhältnisses, des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, das auch ein entsprechendes Energiesystem einschließt, des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, des Verhältnisses von “innen” und “außen” einer Gesellschaft, also ihrer Integration in den globalen ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Kontext (dazu vgl. die regulationstheoretischen Ansätze von Lipietz 1986, Aglietta 1979, Mahnkopf 1988). Alle diese Verhältnisse müssen sich entsprechen, und daher findet – auch wenn diese spontan zustande kommt – eine “Systematisierung” statt (am Beispiel der Herausbildung des Fordismus in den USA vgl. Altvater 1992: 61ff).

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Auch das Raum- und Zeitregime der Gesellschaft, die politische Organisation von Volk, Territorium und Macht wandeln sich mit den von der Ökonomie ausgeübten Sachzwängen und im Zuge der “Entbettungsvorgänge” (Giddens 1995). Die Ökonomie ist nicht wie in der klassischen philosophischen Vorstellungswelt von Herder oder Schelling eine “allgemeine Ökonomie”, also eine rationale und ressourcensparende Ordnung der Natur, oder wie bei Hegel als politische Ökonomie “rationale Staatswirtschaft oder etwa Staatswirtschaft der Intelligenz”, sondern Herrschafts- und Ausbeutungszusammenhang, disziplinierendes “Gehäuse der Hörigkeit” (Max Weber). Zum einen besitzt dieses “Gehäuse” die Fähigkeit zu Wachstum in der Zeit und Expansion im Raum; es wird also größer und umfassender, bis es alle Raum- und Zeitporen besetzt. Dies ist der Prozeß, der heute als Globalisierung bezeichnet wird. Zum anderen vollzieht sich die Entwicklung zyklisch. Regelmäßig werden mehr oder weniger schwere Wirtschaftskrisen verursacht, die Unternehmenszusammenbrüche, Arbeitslosigkeit und Entwertungen mit sich bringen.

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Diese häufig unerwarteten Brüche sind Elemente von Unsicherheit, der die Menschen im Kapitalismus in ganz anderer Weise ausgesetzt sind als die Vorfahren in vorkapitalistischen Gesellschaften. Denn die Unsicherheit ergibt sich nicht mehr aus natürlichen Abläufen, sondern aus sozialen und ökonomischen, marktgesteuerten Prozessen. Kapitalistische Gesellschaften sind nicht erst in ihrer hochentwickelten Form “Risikogesellschaften” (Beck 1986); denn auf Märkten ist niemand seiner Pläne sicher. Sie können in Erfüllung gehen oder nicht. Das Ausmaß des möglichen Scheiterns von Plänen und die Betroffenheit, wenn der Risikofall denn eintritt, sind freilich im hochentwickelten Kapitalismus umfassender als in dessen Frühphase. Denn mit der kapitalistischen Entwicklung wachsen nicht nur die Kapitalmassen, also die Unternehmen und die Geldvermögen, zu riesigen Ausmaßen. Die technischen Apparate und die Energieversorgung, die sie am Laufen halten, erfordern immer weiter ausgreifende und komplexere Systeme (vgl. dazu auch Scheer 1999). Sie werden nicht nur durch globale Kommunikations- und Transportsysteme, sondern auch durch ein globales Finanzsystem zusammengehalten, die ihrerseits nicht vor dem “Systemrisiko” gefeit sind. Dieses tritt dann ein, wenn Risikofälle nicht mehr lokal eingegrenzt werden können. Sie breiten sich aus und stellen die Funktionsweise des Systems insgesamt in Frage.

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Aus Angst vor dem individuellen Risikofall wird Anpassung an externe Koordinaten zur Regel; doch gibt es keine Garantie für einen Erfolg. Selbst bei erfolgreicher Anpassung kann der Mißerfolg eintreten, weil entweder andere “noch erfolgreicher” in der Konkurrenz des Marktes gewesen sind oder an einer entfernten Stelle des komplexen Systems der Risikofall eintritt, der seine Schockwellen über das gesamte System ausbreitet und so das Systemrisiko steigert. Im Falle der Finanzkrisen der 90er Jahre des 20. Jh. ist von “contagion”, von “Ansteckung”, gesprochen worden.

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Mit der Entbettung der Ökonomie aus Gesellschaft und Natur und mit der Vermarktwirtschaftlichung steigen also die soziale und die individuelle Unsicherheit, gegen die im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung Vorkehrungen der sozialen Sicherheit getroffen worden sind. Es entsteht der Wohlfahrtsstaat als das Ergebnis der sozialen Auseinandersetzungen der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen13. Ein Resultat der Auseinandersetzungen ist eine gewisse Normung der sozialen Verhältnisse, die es einzelnen und Gruppen ermöglicht, sich auf die Normen und deren Einhaltung zu berufen. Das Normalarbeitsverhältnis vermittelt Sicherheiten bei der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen und Entlohnung. Die Systeme sozialer Sicherung bieten Schutz in Zeiten der Nicht-Arbeit, sei es vor dem Arbeitsleben in der Ausbildung, während des Arbeitslebens bei Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder nach dem Arbeitsleben im Rentenalter. Doch um die politische Gestaltung dieser Sicherheiten ist ein Jahrhundert gekämpft worden und in Zeiten der Globalisierung und Flexibilisierung sind die tradierten Sicherheiten geschwunden und neue Unsicherheiten sind entstanden: bei der Beschäftigung, bei der Arbeitsorganisation, der Entlohnung und den sozialen Leistungen. Mit der “Erosion” des Normalarbeitsverhältnisses schwinden jene Normen, die einen Bezugspunkt aller Gesellschaftsmitglieder darstellen. Die Flexibilisierung ist daher gleichbedeutend mit einem Rückgang gesellschaftlicher Verbindlichkeit und einer Ausdünnung von Sicherheiten.

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Nicht nur für die Arbeit werden Sicherheitssysteme entwickelt, auch für das Geld. Das Geld ist ein soziales Verhältnis. Der Wert des Geldes ist ihm nicht durch die Natur zugeteilt worden. Das ist noch nicht einmal beim Gold der Fall, obwohl der Wert dem besonderen Material zugeschrieben werden könnte. Geld ist daher nur wertvoll, solange es ein Wertverhältnis auszudrücken vermag14. Das Geldverhältnis wird also so gestaltet, daß das Geld nach innen und außen stabil und sicher bleibt, um seine Qualität als “Medium der ultimativen Kontrakterfüllung” zu behalten. Für die Sicherung des Geldwerts wird in etwa parallel zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates die Zentralbank geschaffen. Deren Aufgaben haben sich historisch mit der Entwicklung des Kapitalismus und “seines” Geldes bzw. infolge der Wahl des jeweiligen Währungssystems beträchtlich gewandelt. Moderne Zentralbanken waren für eine Goldwährung nicht notwendig; sie entstehen erst mit dem Übergang zu einer Papierwährung, deren Wert nach innen (gegen inflationären Druck) und nach außen (gegen eine Abwertung und unerwünschte Aufwertung) verteidigt wird. Sie verlieren im Zuge der Globalisierung generell und speziell dann ihre regulative Bedeutung, wenn die je nationale Währung an eine andere, “starke” Währung gebunden oder durch sie ersetzt wird (“Dollarisierung”).


Phasen der kapitalistischen Entwicklung

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Krisen sind unterschiedlich tief und sie dauern unterschiedlich lange. Nicht immer sind von einer ökonomischen Krise auch die gesellschaftlichen Strukturen und politischen Verhältnisse betroffen. Schumpeters Interpretation von “langen Wellen” der Konjunktur sieht vor allem technische Innovationen und dynamische Unternehmer als Triebkräfte von umfassenden ökonomischen und sozialen Transformationen. In der marxistischen Tradition wird davon ausgegangen, daß die in “großen” Krisen erzwungenen Transformationen den Charakter des Kapitalismus modifizieren. Er wandelt sich vom “Konkurrenz-” zum “Monopol-” und “staatsmonopolistischen” Kapitalismus, d.h. die Art und Weise der Regulation, das Verhältnis von Markt, Staat und sozialen Netzwerken passen sich historischen Veränderungen an. Diese Anpassungsfähigkeit macht den Kapitalismus zu einem stabileren System, als viele Kritiker angenommen haben.

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Der Kapitalismus durchläuft also historische “Phasen” – und sofort taucht die Frage auf, in welchem Verhältnis die historischen Stufen kapitalistischer Entwicklung zu den “allgemeinen” Formbestimmungen und Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise stehen. Mit dieser methodischen Frage hat sich insbesondere die japanische “Uno-Schule” (benannt nach Keizo Uno) auseinandergesetzt (vgl. Mazzei 1979: 17-63). Uno unterscheidet drei Ebenen der Analyse, nämlich die der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die “überhistorisch” gelten, historische Phasen und schließlich die Geschichte von empirisch feststellbaren aktuellen, aber doch kontingenten Ereignissen. Dieses Herangehen hat Ähnlichkeiten mit Fernand Braudels Unterscheidung zwischen der Ereigniszeit des Unmittelbaren, den “Konjunkturen”, in denen sich historische Konstellationen herausbilden und verschwinden, durch die Ereignisse konditioniert und handlungsrelevant werden. Schließlich haben wir es mit der zeitlichen Tiefenströmung der “longue durée” zu tun, durch deren Trägheit Konjunkturen und Ereignisse gebunden werden, weil sie im Rahmen der Produktions- und Regulationsweise verbleiben (Braudel 1986a: 73-92).

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Marx unterscheidet im “Kapital” zwischen der präindustriellen Manufakturperiode des Kapitalismus (bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts) und der “Großen Industrie” (seit dem Ende des 18. Jahrhunderts). Das Unterscheidungskriterium ist die Form der “reellen Subsumtion” der Arbeit unter das Kapital: Folgt die Arbeitsteilung den subjektiven Qualifikationen der Arbeiter oder wird sie in die “objektive” Struktur der Produktionsmittel eingeschrieben? Die Große Industrie übt mit ihren objektiven “Sachzwängen” also Herrschaft über die subjektiven Produktionsbedingungen aus: die Lohnarbeiter werden mehr und mehr der Disziplin der Fabrik (der herrschaftlichen Hierarchie, dem Zeitregime, einer scheinbar neutralen Technostruktur) unterworfen. Die Qualifikationen, Reproduktions- und daher auch Geschlechterverhältnisse, die Formen der Organisationen müssen sich dem anpassen. Der Anpassungsprozeß ist, wie aus der Sozialgeschichte bekannt, höchst konfliktreich.

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Freilich stellt sich dies als unzureichend für eine dynamische kapitalistische Entwicklung der Produktivitätssteigerung heraus. Auch die Arbeit und der Arbeitsprozeß werden rationalisiert. Die wissenschaftliche Betriebsführung (“Taylorismus”) wird nun die Grundlage für eine durchgreifende Rationalisierung von Produktion und Reproduktion, für die seit Mitte der 20er Jahre des 20. Jh. der Name Ford (und daher “Fordismus”) als ein Symbol der neuen Phase des Kapitalismus steht (Gottl-Ottlilienfeld 1926). Die Rationalisierung ist systematisch (also wissenschaftlich fundiert) und systemisch, d.h. sie greift weit über das Subsystem der Ökonomie hinaus und zieht auch Gesellschaft und Politik in ihren Bann (vgl. auch Altvater 1992). Mit dem von Frederick W. Taylor in den USA entwickelten System der Rationalisierung von Arbeit und Lohn kann die Arbeit zur Gänze der neuen kapitalistischen Rationalität unterworfen werden; die “subjektiven Produktionsbedingungen”, so Alfred Sohn-Rethel (1970), werden ebenso durchrationalisiert wie die “objektiven Produktionsbedingungen”. Das ist eine andere Logik der Rationalisierung als die der “Großen Industrie”, in der die Arbeit als passiver Faktor der Anpassung an die “objektiven Produktionsbedingungen” betrachtet wurde und nicht als durch Rationalisierung zu aktivierender Faktor. Dies kann nur gelingen, wenn auch die Reproduktionssphäre (die Haushalte mit ihren geschlechtsspezifischen und Generations-Mustern, Konsumgewohnheiten) dem kapitalistischen Prinzip der Verwertung des Verwertbaren unterworfen wird; Henry Ford hatte dies sehr klar erkannt und von “seinen” Arbeitern daher der Produktion dienliche Verhaltensweisen auch außerhalb der Fabrik verlangt (vgl. Ford 1923; Altvater 1992: 61ff). Allerdings hat es im 20. Jahrhundert Jahrzehnte gedauert, bis die Haushalte so durchrationalisiert waren wie die moderne Fabrik und viele Subsistenzarbeiten im Haushalt (vom Kochen bis zum Waschen) durch Maschinen abgelöst wurden15.

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Doch eine tiefe ökonomische und gesellschaftliche Krise war auch durch die Erschließung der Rationalisierungspotentiale des “Fordismus” nicht zu verhindern; die grundlegenden Instabilitäten einer kapitalistischen Marktwirtschaft spitzen sich zur desaströsen Weltwirtschaftskrise zu. Auf den Schock der großen Krise von 1929 reagieren die Ökonomen zunächst hilflos16. Doch wird mit einem ökonomisch begründeten politischen Projekt geantwortet, mit dem erstens für die Massennachfrage gesorgt wird (“welfare-capitalism”), die benötigt wird, um die Massenproduktion der fordistischen Fließbandsysteme abnehmen zu können (“Keynesianismus”). Freilich kann die Nachfragelücke auch durch staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern (“warfare-capitalism”) geschlossen werden; vor allem das nationalsozialistische Deutschland ist diesen Weg gegangen, der in den Zweiten Weltkrieg führte. Zweitens zeigt der Keynesianismus die Zusammenhänge von Zins, Einkommen und Beschäftigung kreislauftheoretisch auf. Das heißt, er stellt die Verbindung zwischen der monetären und der realen Dimension her und identifiziert so Maßnahmen der makroökonomischen Intervention.

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Das Projekt des Keynesianismus wird in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrieländern zur Grundlage des Ausbaus eines wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus, der sich nun auch, anders als in der Geschichte zuvor, auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung verlassen kann. Der Kapitalismus beweist in dieser Phase seine Kraft zur Modernisierung. Reformen werden dem Kapitalismus durch soziale Bewegungen (vor allem durch die Arbeiterbewegung) “aufgeherrscht”. Die sozialen Reformen waren wegen der Systemauseinandersetzung durchsetzbar; die kapitalistischen Gesellschaften mußten sich, nicht zuletzt wegen der faschistischen Exzesse, die dem Kapital zugeschrieben wurden, von einer freundlichen, menschlichen Seite zeigen. Die Existenz des “sozialistischen Lagers” forderte den Preis des Ausbaus der wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen in den Industrieländern. Auch dies ist ein Ausdruck der “transformistischen Flexibilität” der kapitalistischen Systeme. Etwas Vergleichbares hatte das real-sozialistische System in der “Systemkonkurrenz” nicht vorzuweisen – und es ist letztlich daran gescheitert. Für die kapitalistische Welt jedenfalls hatte sich die wohlfahrtsstaatliche Investition in die soziale Sicherheit gelohnt. Die Ökonomie konnte, nicht zuletzt nachfragegetrieben, mit einzigartig hohen Wachstumsraten expandieren. Das war die Zeit der “Wirtschaftswunder” (vgl. Jánossy 1968) und eines staatsinterventionistischen Kapitalismus (Shonfield 1965). 


Der globalisierte Kapitalismus

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Die jahrzehntelange Expansion der Ökonomien nach dem Zweiten Weltkrieg war erfolgreich, gemessen an dem Zuwachs der Pro-Kopf-Einkommen. Die Wachstumsraten waren, trotz leichter konjunktureller Rückschläge, im langfristigen Mittel höher als je zuvor in der Wirtschaftsgeschichte. Dies war eine direkte Konsequenz der bereits beschriebenen systemischen Anreize zur Steigerung der Produktivkräfte. Die ökonomische Akkumulation und Expansion waren folgenreich. Denn der Kapitalismus, der seit seiner historischen Emergenz immer idealiter ein Weltsystem gewesen ist (darauf verweisen die Weltsystemtheoretiker, z.B. Wallerstein 1979), wird realiter zum modernen, globalisierten Kapitalismus. Die Entbettung ist perfekt, denn nun ist der Kapitalismus dabei, sich von sich selbst zu lösen. Die Formen der realen Welt von fordistischer Produktion und Reproduktion müssen sich an den durch das Kapital selbst gesetzten monetären Restriktionen des globalisierten Kapitalismus bemessen. Besonders wichtig für das Schwinden der Konkurrenzgrenzen ist die Liberalisierung der globalen Finanzmärkte seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jh.

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“Standorte” (Regionen, Nationen, Städte) konkurrieren gegeneinander um das hochmobile Kapital. Die Wettbewerbsfähigkeit ist wie die Rationalisierung in fordistischen Zeiten “systemisch” (Messner 1995). Das heißt, die Art und Weise, wie Wettbewerbsfähigkeit makroökonomisch, gesellschaftlich und politisch organisiert ist, wird im Vergleich von Standorten bedeutsam. Wirtschaftsstile (Sombart), die bislang eher im Blick zurück Interesse erregten, werden nun zum Thema in der Debatte um verschiedene Modelle kapitalistischer Entwicklung. Die Systemkonkurrenz verlagert sich, nachdem der reale Sozialismus kollabierte, in die globale Arena, in der der “rheinische”, der “atlantische” und möglicherweise der “asiatische” Kapitalismus ihre Überlegenheit zu beweisen haben (Albert 1991). Der “rheinische” Kapitalismus mit Traditionen des Wohlfahrtsstaates und institutionellen Bindungen befindet sich in Auseinandersetzung mit dem “atlantischen” Kapitalismus eines liberalisierten Marktes, der institutionelle Bindungen weitgehend gelöst hat und am ehesten dem Ideal der entbetteten Ökonomie nahekommt. Nun konkurrieren auf globalen Märkten nicht nur Unternehmen oder “Standorte”, sondern kapitalistische Stile bzw. Regime, Arrangements von Institutionen. Ihre Wertschätzung ist in der relativen Stärke der Währung in der Währungskonkurrenz objektiviert. Der Wechselkurs aber ist ein monetärer Maßstab, der die realen Bedingungen einer Ökonomie und Gesellschaft nicht unbedingt zutreffend wiedergeben muß. Doch verweist die große Bedeutung der monetären Sphäre in Zeiten der Globalisierung auf eine Veränderung der kapitalistischen Reproduktion, die alles das in den Schatten stellt, was Kapitalismus-Theoretiker von Marx über Sombart und Varga bis Ernest Mandel (vgl. Mandel 1972) prognostiziert haben.

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Mit anderen Worten: Die Globalisierung besteht vor allem darin, daß nicht nur die marktwirtschaftliche Ökonomie sich aus den gesellschaftlichen und natürlichen Bindungen befreit und sich ihnen gegenüber verselbständigt, sondern daß die monetäre Seite dieser Ökonomie sich aus den Bindungen ihrer realen Seite löst und diese zur Anpassung zwingt (vgl. dazu Altvater/ Mahnkopf 1999: 108ff). Freilich passen sich reale Verhältnisse der monetären Flexibilität und Volatilität nur zum Teil und immer mühsam an: Arbeit und Lohnfindung werden flexibilisiert. Die “Rigiditäten” des Fordismus werden überwunden, also jene sozialen Verhältnisse, die mit ihren Normen und Formen Sicherheiten vermittelten: dazu gehörten in den Industrieländern ein Arbeitsplatz, ein sicheres Einkommen und ein System sozialer Sicherheit im modernen Wohlfahrtsstaat, basierend auf einer Umlage von der produktiven Generation zu denjenigen, die aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Kein Zufall, daß dieses System ebenfalls Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. in eine Krise gerät, und es ist auch kein Zufall, daß in dieser Umbruchperiode der sogenannte “informelle Sektor” von Arbeiten außerhalb des formellen Gefüges des “Normalarbeitsverhältnisses” entdeckt wird. Zunächst durch die “Internationale Arbeitsorganisation” in Afrika, aber als der forschende Blick erst einmal für “anormale” Arbeits- und Lebensverhältnisse geschärft war, entdeckte man ihn überall, auch in den Industrieländern (vgl. Portes/ Castells/ Benton 1989). Flexibilität und Volatilität werden sozusagen Charakteristikum der Normalität. Besonders ausgeprägt sind sie auf den globalen Finanzmärkten, die sich seit dieser Zeit mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickeln. Manche Sozialwissenschaftler sehen in den neuen Formen von Volatilität der Finanzen, Flexibilität der Arbeit und Individualisierung der Lebensführung die Konturen einer heraufdämmernden post-fordistischen Produktionsweise (Marazzi 1999), endlich ist die Ersehnte da. Doch Vorsicht, das neue System ist formlos und daher höchst instabil. Die globalen Transformationen vom Fordismus zu einem wie auch immer gearteten Postfordismus durchqueren eine Phase der “Informalisierung”, in der es Sicherheiten, die für die Stabilität einer Formation, einer Regulationsweise, eines Regimes unverzichtbar sind, nicht gibt.

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Es ist im Kapitalismus von Anfang an üblich, den monetären Mehrwert auf den monetären Kapitalvorschuß zu beziehen. Diese Relation wird in einer Vielfalt von betriebswirtschaftlichen Kennziffern ausgedrückt, heute als “Shareholder Value”. Damit wird der Vergleich von Anlagerenditen im globalen Raum in verschiedenen Wertobjekten (physische Unternehmen, Aktienpakete, Anleihen etc.) ermöglicht. Erstens kann die monetäre Rendite besser als die Profitrate in bestimmten Branchen normiert werden. Daher können zweitens alternative Kapitalanlagen weltweit verglichen werden. Dies hat zur Folge, daß – anders als Marx es sich vorstellen konnte – weniger die Durchschnittsprofitrate zum Vergleich von alternativen Kapitalanlagen herangezogen wird als der monetär bemessene Unternehmenswert (“shareholder value”). Drittens entstehen Institutionen, die Kapital sammeln und dieses weltweit für ihre Klientel investieren (Pensions- und Investitionsfonds). Um globale Anlagestrategien rationalisieren zu können, müssen die Alternativen vergleichbar sein, handele es sich dabei um Staatsanleihen, Unternehmenswerte oder Aktienpakete. Der Shareholder Value dient zunächst dieser Rationalisierung, hat aber dann zur Folge, daß die Unternehmen unter dem Gesichtspunkt der Steigerung des Shareholder Value reorganisiert werden. Prinzipien der Umstrukturierung sind eine größere Flexibilität und höhere Rendite, und zwar in der kurzen Frist der halbjährlich vorzulegenden Bilanzen. Die Beschleunigung drückt sich also auch als Verkürzung aller Fristen aus und daher als Zunahme der “Myopie”, der Kurzsichtigkeit, des Systems insgesamt. Durch diese Veränderungen hat der globalisierte Kapitalismus insgesamt an Stabilität verloren. Die Konsequenzen für die Arbeitsbeziehungen sind verunsichernd, da nun soziale Verhältnisse an die monetären Tendenzen der Unternehmenswert-Kalkulation angepaßt werden. Krisen haben, anders als in der “fordistischen” Phase, ihren Ausgangspunkt nur noch vermittelt in der Produktionssphäre, und sie sind nicht mehr auf einen nationalen Markt begrenzt. Sie haben von vornherein globale Reichweite.

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Schützende Konkurrenzgrenzen schwinden mit den Zollrunden des GATT und später der WTO. Eine Folge der politischen Deregulierung der globalen Finanzmärkte ist die Möglichkeit, Kapital weltweit auf der Suche nach höchster Rendite anzulegen. Dies kann mobiles Geldkapital leichter als eher immobiles Sachkapital. Die Finanzinnovationen der vergangenen Jahrzehnte folgen denn auch vor allem der Logik der Mobilisierung gebundenen Kapitals und der Beschleunigung der Anlagen in Zeit und Raum. Von anderen Bedingungen abgesehen, hat die globale Freiheit der Anlage dazu beigetragen, daß eine Tendenz der generellen Zinserhöhung ausgelöst worden ist: Die Standorte mit attraktiv hohen Zinsen zwingen andere Standorte, ähnliche Konditionen zu gewähren – und obendrein steigen die Risiken und damit auch der Risikobetrag im Zins. Seit Beginn der 80er Jahre des 20. Jh. liegen die realen Zinsen oberhalb der realen Wachstumsrate. Tiefgreifende Veränderungen der Struktur des globalen Kapitalismus sind die Folge. Denn es ist für Unternehmer nur noch rentabel, sich zu verschulden, wenn die Investitionen sehr schnell und sehr hohe Erträge bringen. Sind die Bedingungen dafür nicht günstig, werden die Geldvermögen zu monetären Anlagen umgeschichtet. Investitionen, die sich langfristig auswirken, werden vernachlässigt. Die Kalkulationshorizonte verkürzen sich, soziale und natürliche Ausreifungszeiten lassen sich dem Zeitregime des Kapitalismus der Derivate und Pensionskassen nicht anpassen.

Schluß

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Am Ende des “kurzen 20. Jahrhunderts” (Hobsbawm 1995) hat der Kapitalismus obsiegt und ist seit 1989 ohne überzeugende Alternative in der Welt. Ein Grund für diesen “Erfolg” ist die außerordentliche Dynamik des fordistischen Kapitalismus in Zeit (Wachstum) und Raum (Expansion), insbesondere in den Jahrzehnten des “Systemwettbewerbs”. Zwar kann man diese Dynamik bis in die frühe Phase des kapitalistischen Weltsystems im “langen 16. Jahrhundert” (von den großen Entdeckungen 1492 bis zum Westfälischen Frieden 1648) zurückverfolgen, als zeitgleich der Weltmarkt und das System der modernen, souveränen Nationalstaaten entstanden sind. Doch hat es in der langen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems keine Phase mit vergleichbar hohen Wachstumsraten wie zwischen 1945 und etwa 1973 gegeben. Die Verringerung von Distanzen infolge der Beschleunigung von Transport und Kommunikation hat zum Schwinden von Konkurrenzgrenzen geführt und die “Idee des Weltmarkts” in die Realität umgesetzt. Dieser Sachverhalt des modernen Kapitalismus wird gewöhnlich mit dem Begriff der Globalisierung belegt. Als Folge von Kolonialismus und Imperialismus, und insbesondere wegen der “Öffnung” aller Länder zum Weltmarkt im Zuge der Entkolonialisierung, sind die “weißen” Flecken verschwunden. Der Kapitalismus war niemals in seiner 500-jährigen Geschichte so sehr Weltsystem wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zumal nach 1989 auch die “roten Flecken” von der Landkarte gelöscht wurden.

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Doch seine Transformationen seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts keineswegs abgeschlossen. Die Vielfalt der Tendenzen zur Informalisierung verweist schon darauf, daß die neue Produktions- und Regulationsweise noch nicht mit einem in sich stabilen Ensemble von Institutionen herausgebildet wäre. Die Entstehung des Fordismus hat ein halbes Jahrhundert gedauert, bis sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg jene Dynamik weltweit entfalten konnte, die im Ursprungsland des Fordismus, in den USA, in den 20er Jahren erahnt werden konnte. Anders als in Zeiten des Fordismus freilich ist heute mit harten ökologischen Restriktionen und mit den Restriktionen der globalisierten Finanzmärkte zu rechnen. Der Fordismus war noch ein je nationalstaatliches Projekt und daher kam er ungleichmäßig und ungleichzeitig in den Industrieländern zum Zuge. Es konnten auch unterschiedliche Modelle der Regulation ausgebildet werden. Der “Post-Fordismus” jedoch ist von vornherein global. Dies könnte eine Verringerung der institutionellen Vielfalt des postfordistischen Kapitalismus bedeuten und jene Krise der sozialen Evolution auslösen, von der Braudel – darauf ist oben bereits verwiesen worden – den Anstoß alternativer Entwicklungen erhofft, sofern diese als glaubwürdiges Projekt artikuliert werden (Braudel 1986a: 702).

Anmerkungen: