Protokoll zum Erwägungsseminar vom 01.07.2011

Anwesende: Daum, Krause, Essers, Goeller, G. Quaas, Arglist, Scholz, Wiengarten, F. Quaas, Behnisch

Protokollant: Behnisch

Tagesordnungspunkte:

1.      Bestätigung des Protokolls der letzten Sitzung

2.      Diskussion des Papiers von Daum: „Über die Möglichkeit eines Gastarbeiterprogramms zur Stärkung wirtschaftlich schwächerer Nationen anhand des Beispiels DDR und Vietnam“

3.      Diskussion des Papiers von Krause: „Deconstructing the argument for free trade von Robert Driskill“

 

1.        Billigung des Protokolls ohne weitere Anmerkungen

 

2.        Auslosung des Statements zum Papier von Daum: G. Quaas

G. Quaas kritisiert am Papier von Daum, dass die Funktionsweise des Gastarbeiterprogramms in der DDR nicht genau erläutert wird und damit die Frage offen bleibt, ob und wenn ja warum das System funktionierte. Darüber hinaus hätte man Vergleiche z. B. zur Greencard ziehen oder soziologische Berichte von damaligen vietnamesischen Arbeitern einbeziehen können.

F. Quaas bemerkt, dass das Programm möglicherweise auf Grund des geschlossenen Systems der DDR funktionierte. Aus ihrer persönlichen Erfahrung berichtet F. Quaas, dass sie das System des Gastarbeiterprogramms damals wie einen Schleier wahrnahm, da durch die „Ghettoisierung“ der Arbeiter und die Sprachbarrieren kaum persönliche Kontakte bestanden. Während eines Urlaubs in Wernigerode im Jahr 1989 konnte F. Quaas beobachten, wie mehrere Vietnamesen, die dort in der damals ansässigen Kleiderindustrie arbeiteten, selbst genähte Textilien aus überschüssigen Stoffen auf Märkten verkauften. Diese selbstständige Nebentätigkeit war jedoch nicht erwünscht und zog regelmäßig polizeiliche Maßnahmen nach sich. F. Quaas wertet dies als Zeichen für die unerwünschte Integration der vietnamesischen Arbeiter in die Gesellschaft der DDR.

Scholz glaubt gehört zu haben, dass die Vietnamesen heute die am besten integrierten Zuwanderer sind. Er fragt, ob dies auf das DDR-Gastarbeiterprogramm zurückzuführen ist.

F. Quaas glaubt das eher nicht, denn die vietnamesischen Gastarbeiter dienten in der DDR eher als billige Arbeitskräfte und wurden wenig integriert. Nach der Wiedervereinigung gab es zunächst einen Bruch in den Beziehungen zwischen Vietnam und BRD. In der Nachwendezeit wurden die in den neuen Bundesländern gebliebenen Vietnamesen mehr oder weniger in die Selbstständigkeit gedrängt, denn viele waren arbeitslos und hätten ohne Nachweis für eine Arbeitstätigkeit kein Bleiberecht erhalten.

Goeller weist darauf hin, dass Rodrik ´s Gastarbeiterprogramm als Entwicklungshilfe dienen soll. Arbeiter aus den Entwicklungsländern sollen in den Industrieländern neue Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen, die sie dann in ihren Heimatländern anwenden können. Er fragt, ob solch ein Wissenstransfer zwischen DDR und Vietnam stattfand.

Daum antwortet, dass das Gastarbeiterprogramm als „sozialistische Bruderhilfe“ verstanden wurde. Da die Gastarbeiter aber vorwiegend auf Arbeitsstellen eingesetzt wurden, die nur eine geringe Qualifikation verlangten, geht er davon aus, dass wenig Wissen transferiert wurde.

Goeller fragt, ob es historische Beispiele gibt, die aufzeigen, dass ein solches Programm im Sinne Rodrik´s erfolgreich sein kann.

Krause antwortet, dass Rodrik selbst historisch erfolgreiche Beispiele im Anhang benennt, darunter z. B. ein Programm von Indien.

F. Quaas bemerkt, dass es intensive akademische Austauschbeziehungen zwischen Vietnam und der DDR gegeben hat. Sie selbst hat als Assistentin an der Universität Leipzig Erfahrungen mit vietnamesischen Studenten gesammelt. Auf Grund der fehlenden Sprachkenntnisse der meisten vietnamesischen Studenten (sie sprachen weder Englisch noch Deutsch) war die Wissensvermittlung äußerst schwierig. Hinzu kam, dass die Austauschstudenten die Kurse bestehen mussten. F. Quaas betont, dass unter diesen Voraussetzungen ein Wissenstransfer äußerst fraglich ist.

G. Quaas fragt sich, ob sich daran heute viel geändert hat.

F. Quaas erläutert die damalige Situation genauer und unterstreicht die Schwierigkeiten der Wissensvermittlung, da zu dieser Zeit fast ausschließlich deutsche Literatur verwendet wurde. Allerdings fügt sie hinzu, dass es auch Ausnahmen gegeben hat. Im Rahmen eines Besuchs einer vietnamesischen Delegation an der Universität Leipzig stellte sich heraus, dass einige von ihnen als Austauschstudenten zu DDR-Zeiten an der Uni Leipzig studierten.

G. Quaas fasst zusammen, dass die Resultate des Gastarbeiterprogramms der DDR nicht belegbar sind und die genaue Funktionsweise auch unklar bleibt. Er fragt Daum, woher er das Argument hat, dass die DDR-Bürger Tätigkeiten am Fließband ablehnten. G. Quaas hegt an dieser Aussage erhebliche Zweifel.

Goeller stimmt dem zu, denn die DDR-Bürger hatten ja keine freie Berufswahl.

F. Quaas bestätigt auch, dass es unter Akademikern keine wirklich freie Berufswahl gab. Die freien Arbeitsplätze für Akademiker wurden in einem Stellenpool zusammengefasst und zentral besetzt. Dies hatte sowohl Vor- und Nachteile.

G. Quaas bietet Daum an, bei der Vermittlung persönlicher Kontakte zu Vietnamesen behilflich zu sein, falls er sein Papier um persönliche Erfahrungen anreichern möchte. Darüber hinaus merkt er an, dass es interessant ist, Rodrik´s Ansatz mit dem von Elsenhans zu vergleichen. Elsenhans hatte einen Techniktransfer von den Industrie- zu den Entwicklungsländern angeregt, wobei der Fokus zunächst auf „einfachen“ technischen Geräten und Maschinen liegt und nicht im Bereich des High Tech. Nach Elsenhans muss erst die Schwerindustrie entwickelt werden, bevor höherwertige Branchen entstehen können. Sein industriepolitischer Ansatz setzt demnach am Produktionsfaktor Kapital an.

F. Quaas meint, dass heute andere Anreize für Auslandsstudenten bestehen. Zur Zeit der DDR war der Anreiz, dass nach der Rückkehr ein Aufstieg im politischen Kader möglich war.

3. Auslosung des Statements zum Papier von Krause: Krause

Krause erklärt, dass Driskill in seinem Paper vor einer unkritischen Betrachtung des Freihandels warnt und macht dies an Hand des Einstiegslehrbuchs von Krugman/ Obstfeld deutlich. Driskill kritisiert an den Autoren die einleitende Aussage, dass Freihandel generell gut sei, weil diese bereits wertend und zudem undifferenziert ist. In seinem Paper wirft er die Frage auf, was gut für eine Nation heißt. Er selbst schlägt das Kriterium vor, „wenn alle durch den Freihandel bessergestellt würden“. Die Autoren bemerken zwar, dass dieses Kriterium durch Umverteilung erreicht werden könnte, prüfen aber nicht, ob und inwiefern eine Umverteilung in der Realität stattfindet.

Scholz fragt, ob empirische Belege für theoretische Aussagen in einem Lehrbuch erbracht werden müssen.

Goeller meint, dass wenn schon kein theoretisch plausibles Argument vorliegt, wenigstens empirische Belege geleistet werden sollten.

Scholz antwortet darauf, dass ein theoretisches Argument für den Freihandel besteht.

G. Quaas weist darauf hin, dass das von Driskill aufgenommene Kaldor-Hicks-Kriterium durchaus widersprüchlich ist.

F. Quaas fragt, welcher Begriff für eine Verbesserung und welches Maß für Wohlstand verwendet wird. Woher können wir wissen, dass durch eine Umverteilung eine Win-Win-Situation entsteht? Erfolgt die Messung am Einkommenszuwachs? Es ist bekannt, dass keine Wohlfahrtsfunktion funktioniert, allerdings bietet auch Arrow´s Ansatz für F. Quaas keine befriedigende Lösung.

Krause wirft ein, dass in der gängigen Freihandelsargumentation (so auch im Lehrbuch von Krugman/ Obstfeld) unterstellt wird, jeder würde durch Freihandel bessergestellt, auch ohne Kompensation. Zwar verweisen die Autoren in diesem Zusammenhang auf ein Papier von Samuelson, der eben dies darin belegt, greifen aber nicht Samuelson´s kritische Punkte auf, die er insbesondere bei daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen sieht. Darin sieht Krause die undifferenzierte Darstellung des Freihandels durch die Befürworter bestätigt.

G. Quaas dachte bisher, Krugman/ Obstfeld würden argumentieren, dass Freihandel wünschenswert ist, weil dadurch ein Nettogewinn entsteht, der dann umverteilt werden kann. Allein die Möglichkeit der Kompensation reicht den Ökonomen, die Maßnahme zu befürworten.

F. Quaas wirft ein, dass die Gewichtung individueller Nutzen in der gesellschaftlichen Nutzenfunktion normative Wertungen voraussetzt, die nicht erläutert werden. Somit wird eine positive Wissenschaft vorgegaukelt, obwohl normative Wertungen stattfinden.

Scholz sieht im Konzept von Krugman/ Obstfeld nichts verkehrtes, denn die Delegation des Verteilungsproblems an die Politik ist seiner Meinung nach legitim.

Krause widerspricht, denn für ihn ist das Verteilungsproblem auch ein ökonomisches Problem. Er kritisiert, dass fast nie angegeben wird, wie individuelle Nutzen gewichtet werden und damit die Verteilung bestimmt wird.

Scholz wirft ein, dass Gerechtigkeit in einer positiven Wissenschaft keine Rolle spielen kann.

Goeller sieht das anders, denn bereits durch die Themenwahl wird auch in der Ökonomik eine Wertung abgegeben.

Scholz betont, dass das Ziel eine möglichst positive Wissenschaft ist.

Goeller entgegnet, dass Ökonomen Ratschläge und Handlungsempfehlungen geben.

Es besteht Einigkeit darin, dass die Wissenschaft zwar Empfehlungen für eine bestimmte Politik geben darf, aber auf mögliche Gewinner und Verlierer hinweisen muss. Krause meint, dass es für ihn fraglich ist, ob diese Hinweise tatsächlich gegeben werden.

G. Quaas hingegen erwartet nicht, dass ein Standardlehrbuch Wertungen abgibt.

Krause weist auf das als Musterbeispiel deklarierte Vorgehen zweier Harvardökonomen hin, die in ihrer Darstellung des Freihandels alle Aspekte benennen und ihre Argumente kritisch beleuchten. Da gerade Standardlehrbücher die Meinung von Studenten prägen und eine besondere Verantwortung tragen, weil Studenten in den ersten Semestern nur wenig ökonomisches Wissen besitzen, wäre diese Vorgehensweise wünschenswert.

G. Quaas wirft ein, dass Lehrbücher idealistisch sind und nicht die Realität darstellen.

F. Quaas hingegen vermisst auch eine Erklärung normativer Aussagen. Insbesondere, weshalb bei der Umverteilung die Gewinne der Gewinner niedriger gewichtet werden als die Verluste der Verlierer (warum sollte der Nutzen des Gewinners positiv sein, wenn er ein Großteil seines Gewinnes an den Verlierer abgeben muss?).

Im Anschluss gibt es eine Unstimmigkeit zwischen G. Quaas und Krause, worin der Unterschied zwischen dem Kaldor-Hicks-Kriterium und dem Pareto-Argument liegt. Konkret wird diskutiert, ob nach der Kompensation alle Akteure im Vergleich zur Ausgangssituation Gewinner sein müssen oder ob auch ein gleiches Nutzenniveau ausreicht, damit Freihandel als wünschenswert gelten kann. Es folgen Illustrationen an der Tafel.

F. Quaas gibt nochmals zu bedenken, ob der Gewinner, der im Zuge der Kompensation viel abgeben muss, im Anschluss einen höheren Nutzen hat als vor dem Handel.

G. Quaas bemerkt, dass Ökonomen Verteilungsfragen kaum untersuchen und sich wenig damit beschäftigen, ob Kompensationen in der Praxis funktionierten.

Krause betont, dass man normative Aussagen machen muss, wenn man sich schon mit der Wohlfahrt beschäftigt.

G. Quaas fragt, warum dies ein Thema für Ökonomen sein soll. Schließlich ist die praktische Philosophie für Gerechtigkeitsfragen zuständig.

F. Quaas macht dennoch deutlich, dass der Sprung von der individuellen Nutzenfunktion zur gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion fraglich ist.

Goeller verdeutlicht am Beispiel eines Gutachtens über die Einführung einer PKW-Maut, dass bei vielen wissenschaftlichen Arbeiten Hinweise auf daraus entstehende Verteilungseffekte unterbleiben.

G. Quaas meint, dass auf Grund der Komplexität der Realität immer Aspekte weggelassen werden müssen.

Es folgt eine Diskussion, ob das Weglassen von möglichen Verteilungsfolgen in wissenschaftlichen Arbeiten zulässig ist und wer dann die Verantwortung für Verteilungsprobleme trägt. Es wird gefragt, ob die Wissenschaft die Aussage machen kann, dass der Gewinn durch eine Maßnahme größer ist als vorher. G. Quaas ist der Meinung, dass das BIP/ Kopf kein normatives Maß ist, wenn zuvor Wohlstand auf diese Art definiert wurde. Krause sieht das nicht so. G. Quaas betont, dass die Aussage, dass das BIP/ Kopf gesteigert werden kann, keine normative Aussage ist, da eben nicht gesagt wird, dass es ein wünschenswertes Ziel sei, das BIP/ Kopf bzw. den Wohlstand zu steigern. F. Quaas weist darauf hin, dass Wohlfahrt an sich ein normativer Begriff ist, denn dahinter stehen die aggregierten individuellen Nutzen. Darüber hinaus hat aus ihrer Sicht Krause Recht, dass durch die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion eine Wertung erfolgt.

Scholz fragt Krause, was genau die Opfertheorie, die er in seinem Papier angesprochen hat, beinhaltet.

Krause erklärt, dass mit zunehmendem Einkommen der Grenznutzen abnimmt und auf Grund dessen die Opfertheorie als Rechtfertigungsgrundlage für eine progressive Besteuerung dient.