Protokoll der 11. Sitzung im SS 2015 am 26.06.2015

 

Beginn: 09.15 Uhr

Ende: 10.45 Uhr

Ort: WiFa Grimmaische Sr. 12, SR 7

Protokoll: F. Fehlberg

 

Anwesende: 5 Studierende; 2 Dozenten: F. und G. Quaas; 1 Protokollant: F. Fehlberg

 

TOP:

 

1. Protokolldiskussion und -bestätigung

2. Diskussion der Quelle (Kapitel 14 aus Piketty: Das Kapital)

3. Vorbereitung der nächsten Sitzung

 

TOP 1 – Protokolldiskussion und -bestätigung

 

Im Nachgang zur letzten Sitzung wird noch einmal der Wachstumsbegriff Pikettys andiskutiert. Während die meisten diesen als neoklassisch verstehen (in den Ausgangspunkten Bevölkerungswachstum und Technologieentwicklung), könne man den Autor doch auch als Theoretiker des Kapitalstockwachstums lesen (zentrale Rolle der Vermögensverteilung und des Vermögenswachstums).

 

Als dritte Möglichkeit wird erwogen, dass Piketty beides kritisch verbinde. Letztlich stelle der neoklassische Wachstumsgedanke generell das Kapitalstockwachstum implizit ins Zentrum. Auch könne man einige andere Richtungen der Wirtschaftstheorie, die sich an bestimmten Aussagen der Klassiker orientieren, als „Kapitalistik“ bezeichnen. So etwa auch die neoricardianische Schule und selbst Marx, der das Kapitalstockwachstum vor dem Hintergrund dessen innerer Widersprüche untersuchte. Wie eine Ökonomik aussieht, die das Kapital, seine Formen und seine Entwicklung nicht in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, bleibt allerdings offen. Das Protokoll der letzten Sitzung vom 19.06.2015 wird bestätigt.

 

An die Diskussion anknüpfend werden alle Anwesenden zum nächsten Lesezirkel „Welches Wachstum? Begriffe und Perspektiven“ des AK Plurale Ökonomik/oikos Leipzig e.V. am 01.07.2015 im SR 12 eingeladen.

 

TOP 2 – Diskussion der Quelle (Kapitel 14 aus Piketty: Das Kapital)

 

a) Piketty mal nicht neoklassisch – die progressive Einkommenssteuer

 

Das Eingangsstatement betont, dass Piketty nicht durchweg neoklassisch argumentiere. Zwar seien seine modelltheoretischen Annahmen neoklassisch, seine Vorschläge für die Steuerung der Systemwirklichkeit entsprängen aber eher dem französischen Sozialstaatsgedanken. Sehr starke Progressivsteuern würden hier als Elemente einer egalitären rechtsstaatlichen Steuerung der natürlicherweise vorhandenen Ungleichheit angesehen. Sie seien zudem durch alle Gesellschaftsglieder akzeptiert.

 

Seine fleißige und detailreiche Faktensammlung zur Einkommens- und Erbschaftssteuer verblüffe mit kontraintuitiven Ergebnissen. So sei etwa der Blick in die Historie der progressiven Steuern bzw. der Steuersätze vor allem in den angelsächsischen Ländern überraschend. Dagegen müsse man sich angesichts der gegenwärtig immer noch als „soziale Marktwirtschaft“ verbrämten Steuer- und Abgabenwirklichkeit in Deutschland fragen, ob der Sozialstaat noch in die Richtung unterwegs sei, die Piketty für das 20. Jhd. konstatiert oder aber für das 21. Jhd. anzustreben wünscht.

 

Die wirtschaftlichen Folgen der stark progressiven Einkommenssteuer Pikettys werden kontrovers diskutiert (z.B. anhand der Laffer-Kurve, deren Scheitel weit nach rechts rücke). Das Steueraufkommen wolle Piketty nicht unbedingt steigern, jedoch die Steuer als Steuerungsinstrument einer sozial verträglicheren Verteilung einsetzen, z.B. mit „konfiskatorischen“ Steuersätzen für sehr hohe Einkommen (679). In diesem Zusammenhang müsse noch einmal betont werden, dass Piketty die sog. Unternehmerlöhne zwar zu den Arbeitseinkommen zähle, hier aber seine progressive Steuer besonders greifen würde (669).

 

Zum einen könne das Kapital aber dann einfach das Land verlassen oder andere Schlupflöcher nutzen, um Höchststeuersätze zu vermeiden. Zum anderen sei die private Investitionstätigkeit damit gefährdet bzw. verlagere sich ebenfalls. Es wird zu bedenken gegeben, dass Piketty solchen Entwicklungen mit einer umfassenden Transparenz des Steuerbürgers begegnen will, etwa nach dem Muster der US-Behörden, die Schweizer Banken zur Offenlegung von Daten zwangen.

 

b) Sozialstaat = Steuerstaat? – eine Frage der historisch-soziokulturellen Eigenarten

 

Anhand des Beispiels Schweden, wo der Datenschutz in Sachen Einkommen auch im sozialen Leben erheblich offener gehandhabt werde, zeige sich eine Ambivalenz: Werde der Datenschutz in Deutschland aus demokratisch-liberalen Gründen hochgehalten, werde er aus eben jenen Gründen in Schweden zumindest teilweise systematisch aufgehoben. Wie Piketty die Steuerfrage als eine „philosophische“ (662) auffasse, so sei sie gleichzeitig eine soziokulturelle und historische Frage. Jedenfalls sehe Piketty durch die ungerechte Verteilung der Steuerlast – oftmals paradoxerweise mit demokratisch-liberaler Begründung – eine ungute Entwicklung auf die Gesellschaft zukommen: „Diese Entwicklung befördert Individualismen und Egoismen“ (667).

 

Pikettys Sozialstaat sei ein Sozialstaat, der kaum anders als ein Steuerstaat auftreten könne, da er der französischen Tradition der Theorie des Gesellschaftsvertrags (Rousseau) entstamme. Die politische und wirtschaftliche Gemeinschaft der Gesellschaft werde hier durch eine relativ abstrakte rechtliche Regelung hergestellt, die für alle bindend sei. In den skandinavischen Ländern und auch Deutschland herrsche dagegen eine Gemeinschaftsauffassung vor, die an das Bild einer historischen Schicksalsgemeinschaft anknüpfe.

 

Die Gemeinschaft der Gesellschaft als Verbindung der Einzelglieder resultiere hier aus einer Art übergeordnetem Volksindividuum, das u.a. in Form eines allsorgenden sozialen Staats zutage trete (Sozialversicherungssystem, sozialer Korporatismus). Piketty deute derartige historische Unterschiede mit den Kolportagen französischer Steuerdiskussionen um 1900 an, in denen die deutsche „inquisitorische“ Einkommenssteuererklärung als „autoritär“ und dem „freien Volk“ der Franzosen unwürdig erachtet wurde (FN 2, 677).

 

Die extremen Ausprägungen des zweiten Gemeinschaftsgedankens schlügen sich in Nationalismus und gar Rassismus nieder, die extremen Auswüchse des ersten in einem individualistischen Alltagskampf, in dem, mit Piketty, nur noch die Garantie des Privateigentums Rechtsgeltung habe. Piketty wolle mit seinem Steuerstaat beiden Entwicklungen entgegentreten, die er durch die in den letzten Jahrzehnten wieder extrem hohen Einkommen an der Spitze und mit der Vermögensverteilung gleichzeitig verstärkt sieht. „Die Hierarchie des Reichtums ist eine Frage der Ehre und Moral, nicht nur des Geldes – zwischen Ländern wie zwischen Individuen“ (685f.).

 

c) Vermischtes

 

Die Diskussion entfernt sich von den progressiven Steuern. Gegenstand wird der derzeitige globale Handel und ob er zugunsten oder zum Nachteil etwa von Kartoffelbauern in Ägypten wirkt. Während die eine Seite die Handelsbeziehung als Abhängigkeitsverhältnis und Förderung falscher Produktionsanreize charakterisiert, hebt die andere Seite die positiven Auswirkungen auf die Einkommenssituation im Lieferland hervor. Wirtschaftliche Ungleichheit berge auch Chancen.

 

Die Rolle der USA bei der NATO-Osterweiterung sowie die unterschiedlichen Zielstellungen einer gemeinschaftlich-europäischen wie der US-amerikanischen Politik im Ukraine-Konflikt werden erörtert. Eine Diskussion über die Begriffe „Zuwanderungs-“ und „Einwanderungsgesellschaft“ versucht die Unterschiede zwischen den USA und europäischen Ländern in Sachen Gesellschaftsstruktur zu klären.

 

Zuletzt wird der Bogen doch zurück zu Piketty geschlagen. Anhand seiner Äußerung über eine mögliche Entwicklung ohne die Weltkriege (672) komme seine Haltung zur Methode kontrafaktischer Geschichtsschreibung und quantitativer Modellierungen zur Geltung. Niemand könne sagen, wie es ohne die Weltkriege gekommen wäre, eine Spekulation darüber zumindest mit quantitativen Methoden sei absurd. Zumal verkennten diese Versuche, dass Kriege keineswegs die exogenen Erscheinungen darstellen, als die sie in den Modellen betrachtet würden. Dagegen wird eingewandt, dass es gerade zur Analyse der Geschehnisse und Abschätzung künftiger Ereignisse sehr wohl angebracht sei, Überlegungen dieser Art anzustellen (wie z.B. auch in der Politikwissenschaft).

 

TOP 3 – Vorbereitung der nächsten Sitzung

 

Die Diskussion zur Quelle der 11. Sitzung wird als abgeschlossen betrachtet. Bis zur nächsten Sitzung am 03.07.2015 soll das 15. Kapitel aus Pikettys „Kapital“ gelesen werden.