Protokoll der 10.
Sitzung im SS 2015 am 19.06.2015
Beginn: 09.15 Uhr
Ende: 10.45 Uhr
Ort: WiFa Grimmaische Sr.
12, SR 7
Protokoll: F. Fehlberg
Anwesende: 9 Studierende; 2
Dozenten: F. und G. Quaas; 1 Protokollant: F. Fehlberg
TOP:
1.
Protokollbestätigung
2.
Vorstellung eines Hausarbeitsthemas
3.
Diskussion der Quelle (Kapitel 13 aus Piketty: Das Kapital)
4.
Vorbereitung der nächsten Sitzung
TOP 1 – Protokollbestätigung
Das
Protokoll der letzten Sitzung vom 12.06.2015 wird bestätigt.
TOP 2 – Vorstellung eines Hausarbeitsthemas
Gegenstand
einer Hausarbeit soll die Darstellung und Kritik des Wachstumsbegriffs von
Piketty sein. Die geplante Gliederung wird an der Tafel vorgestellt und
mögliche Inhalte und Schwerpunkte in der Gruppe diskutiert.
Zunächst
sei der Wachstumsbegriff Pikettys als neoklassisch zu kennzeichnen, da er sich
ausschließlich auf das Bevölkerungswachstum und den Faktor der technologischen
Entwicklung konzentriere. In einer Kritik folge anschließend die Fokussierung
auf die fehlende ökologische Komponente. So berücksichtige Piketty etwa nicht
die „Ökosystemdienstleistungen“ und den Ressourceninput als wichtige Faktoren
des Wachstums. Die Belastung der kommenden Generationen durch heutiges Wachstum
gerate aus dem Blick. Unter diesem Gesichtspunkt sei es z.B. möglich, ein
„unökonomisches Wachstum“ zu konstatieren.
Die
These der Arbeit läuft auf eine Verbindung des verteilungs- mit dem
ökologisch-ökonomischen Wachstumsbegriff hinaus. Ein stärkeres Wachstum im
herkömmlichen Verständnis fördere etwa im Hinblick auf die Verhandlungsmacht
der Arbeit auch nicht unbedingt die Beseitigung von systemischen Ungleichheiten
(Gegenüberstellung USA und Schweden). Insofern seien zudem die Implikationen
für die Relation und den gegenseitigen Einfluss der Größen r (Kapitalrendite)
und g (Wachstumsrate) zu erwägen. Als Alternativkonzept soll das „qualitative
Wachstum“ vorgestellt werden.
Die
Gruppe diskutiert Möglichkeiten, die „Kosten“ des Ökosystems in
volkswirtschaftliche Modelle und die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
einzubinden. Dies geschehe etwa schon über die sogenannten Vorleistungen in der
Berechnung des Bruttoinlandsproduktes. Zukünftige Kosten jedoch, bspw. um
Folgen des Klimawandels auszugleichen, würden hier nicht erfasst. Vielmehr
müsse man eine Bepreisung der Ökosystemdienstleistungen auf die Bestandsgröße
des Kapitalstocks beziehen, also letztlich als eine Art Abschreibung begreifen.
TOP 3 – Diskussion der Quelle (Kapitel 13 aus
Piketty: Das Kapital)
Die
Gruppe nimmt den Vorschlag an, dass ein ausgeloster Teilnehmer, der bereits in
einer Sitzung die Diskussion einleitete, in der Folgesitzung das
Eingangsstatement ablehnen kann.
a) Pikettys
Sozialstaatsgedanke
Die
Diskussionseröffnung spitzt die Ambivalenz der Äußerungen des Autors in Kapital
13 auf die Frage der Kapitalsteuer zu. Einerseits sehe Piketty in ihr die
„ideale Einrichtung“ (627), der Ungleichheit unter den Bedingungen der
Systemmechanismen entgegenzuwirken. Zugleich sehe er selbst klar, dass eine
globale progressive Kapitalsteuer Utopie sei (628).
Die
Inkonsistenz bzw. mangelnde Konsequenz setze sich bei Piketty bei der
Behandlung der Abgabenquote bzw. Staatstätigkeit fort. Zum einen ziehe er gegen
den weiteren Abbau des Sozialstaats zu Felde und rede einer nötigen
Umverteilung von Reich zu Arm das Wort, um den „Gesamtnutzen“ der Gesellschaft
als Ganzes zu erhöhen (FN 640f.). Zum anderen bezeichne er eine Fortsetzung des
Wachstums der ohnehin bereits historisch einmalig hohen Staatstätigkeit als
„weder realistisch noch wünschenswert“ (643).
Piketty
betone immer wieder, dass die Staatsform auf die langfristigen
Systemmechanismen des auf der geschehenen Verteilung beruhenden
„Patrimonialkapitalismus“ nur geringfügig Einfluss nehmen könne. Gleichzeitig
rechtfertige er seine Kapitalsteuer als demokratisch legitimiertes und
transparentes Instrument, um selbst noch Bankenwesen und Finanzmärkte besser zu
regulieren (627f.).
Zwischen
diesen Uneindeutigkeiten lasse aber doch Piketty seine Neigung zum stärkeren
Sozialstaat durchblicken. Freilich sehe er astronomisch hohe Abgabenquoten
(70-80 %, 643) kritisch, sei also kein aktiver Verfechter des Wagner’schen
Gesetzes, wonach die „Ausdehnung des Bereiches der Staatsthätigkeit […] im
Wesen jedes im Fortschritt begriffenen Volks“ (Adolph Wagner, 1863) angelegt
sei. Aber sehr wohl sehe Piketty einen Regelungsbereich des Staates, den dieser
zum Wohl der Gesellschaft nicht nur halten, sondern auch erweitern müsse.
Insbesondere bei der Regulierung der Finanzmärkte und bei den Privatisierungen
von öffentlichen Gütern befinde sich der Staat zum Nachteil der Gesellschaft und
trotz hoher Abgabenquote auf dem Rückzug (634).
b) (Sozial-)Staats- und
Wirtschaftsmodelle
Die
Rolle des Staates wird auf dieser Grundlage Gegenstand einer Kontroverse in der
Gruppe. Die Zeit sei vorbei, als der deutsche Sozialstaatsgedanke noch eine
Vorbildfunktion gehabt habe. Der zersplitterte und zum Teil ideologisch
instrumentalisierte Diskurs der „Sozialen Marktwirtschaft“ mache deutlich, wie
die Entwicklung, die Piketty zum Teil beschreibe, seit den 1970er-Jahren
verlaufen sei. Sowohl der „rheinische“ als auch der „atlantische“ Kapitalismus
hätten sich in den letzten Jahrzehnten selbst desavouiert.
Zunächst
zeigten aber doch die Flüchtlingsströme Richtung Europa, dass das hiesige
Wirtschafts- und Staatsmodell „Leuchtturmcharakter“ habe. So grau, wie Piketty
das Bild eines Sozialstaats auf dem Rückzug zeichne, sei die Realität offenbar
nicht. Eine Ausweitung der Staatstätigkeit etwa durch die Kapitalsteuer
verhindere doch letztlich die privaten Investitionen, die bereits heute
fehlten. Ob der Staat in gleicher Höhe und zumal mit gleicher Effizienz
Investitionen vornehme, sei stark zu bezweifeln. Im Grundsatz gelte letztlich
doch: soviel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich.
Dass
die Staatstätigkeit immer und notwendigerweise ineffizienter sei als die
privatwirtschaftliche Initiative wird von der Gegenseite heftig bestritten. Der
Diskussion um den Staatsgedanken liege letztlich die Frage zugrunde, ob der
maximale Gemeinnutzen durch die bloße Addition der optimierten Einzelnutzen von
unten zustande komme oder durch eine regulierende Gemeinwohlordnung von oben.
Letztere sei mit einer patriarchalen Vorgabe, welcher denn tatsächlich der
allgemeine Nutzen sei, nicht gleichzusetzen.
Genau
solche Vorgaben mache der Staat aber heute: So gebe er an den Universitäten
Lehrpläne vor, die von einem bestimmten Bild des Nutzens geprägt seien. Die
Freiheit der Wissenschaft, von Forschung und Lehre, sei damit nicht möglich.
Dies werde mit dem allgemeinen Nutzen begründet, basiere aber letztlich auf
kurzfristigen Erwägungen der Berufsbildung und zumal privatwirtschaftlichen
Vorgaben.
An
diesen Hinweis auf eine mögliche Okkupation des Staates durch Einzelinteressen
schließt sich eine Debatte über die Entwicklung des Bildungsniveaus an. Wenn
heute ein Dachdeckerlehrling eine Latte in fünf gleichgroße Abschnitte teilen
soll, dabei aber einen Rest produziere, dann stimme doch das Wort „früher war
alles besser“. Trotz großer Heiterkeit wird dieser Darstellung widersprochen.
TOP 3 – Vorbereitung der nächsten Sitzung
Die
Diskussion zur Quelle der 10. Sitzung wird als abgeschlossen betrachtet. Bis
zur nächsten Sitzung am 26.06.2015 soll das 14. Kapitel aus Pikettys „Kapital“
gelesen werden.