Protokoll der 2. Sitzung
im SS 2015 am 17.04.2015
Beginn: 09.15 Uhr
Ende: 10.45 Uhr
Ort: WiFa Grimmaische Sr.
12, SR 7
Protokoll: F. Fehlberg
Anwesende: 15 Studierende; 2
Dozenten: F. und G. Quaas; 1 Protokollant: F. Fehlberg
TOP:
1.
Protokollbestätigung
2.
Verständigung über Seminarregeln und Protokollform
3.
Diskussion der Quelle (Abschnitt „Einleitung“ aus Piketty: Das Kapital)
4.
Vorbereitung der nächsten Sitzung
TOP 1 – Protokollbestätigung
G.
Quaas weist nochmals darauf hin, dass die zu den Sitzungen des
Erwägungsseminars (ES) angefertigten Protokolle von der Gruppe bestätigt werden
bzw. auf Anfrage noch Änderungen einfließen können. Die Bestätigung des
Protokolls vom 10.04.2015 wird aufgrund der gestiegenen Teilnehmerzahl auf die
nächste Sitzung vertagt.
TOP 2 – Verständigung über Seminarregeln und
Protokollform
Zur
2. Sitzung ist die Sitzanordnung „runder Tisch“ umgesetzt, die Teilnehmer (TN)
haben Namensschilder erhalten. Die Gruppe erkennt die auf der ES-Website
dargelegten Seminarregeln einstimmig an. Auf Vorschlag des Protokollanten
beschließt sie zudem, dass die Protokolle ohne Namensnennung der TN erstellt
werden. Die Mitschriften konzentrieren sich daher auf den formalen und
inhaltlichen Ablauf des Seminars bzw. der Gruppendiskussionen.
TOP 3 – Diskussion der Quelle (Abschnitt
„Einleitung“ aus Piketty: Das Kapital)
a) Begriffsverwirrung um
Vermögen/Kapital bzw. Einkommensarten
Nach
dem ausgelosten Statement eines TN zur Quelle konzentriert sich die Diskussion
zunächst auf begriffliche Fragen. Was ist Vermögen? Kann man Vermögen
qualifizieren, wie dies Piketty offensichtlich besonders in Bezug auf
„ererbtes“ Vermögen vornimmt? Gibt es einen Unterschied zu „erarbeitetem“
Vermögen? Ist diese Unterscheidung in Hinblick auf die ökonomische Untersuchung
überhaupt von Bedeutung?
Vor
dem Hintergrund, dass Piketty sich vorgenommen habe, die „Ungleichheit“ der
„Verteilung“ untersuchen zu wollen, erscheine die Qualifizierung des Begriffs
Vermögen vor allem als eine Frage der Erkenntnismotivation des Autors.
Zwar
ginge es Piketty hauptsächlich um die Vermögensungleichheit (Bestandsgröße),
doch sei diese untrennbar mit der Einkommensungleichheit (Stromgröße) und damit
mit den Einkommensarten verbunden. Hier wiederum stellt sich in der Debatte
weniger schwer noch als beim Vermögen eine Einigung über die Qualifizierung zwischen
Arbeitseinkommen (Lohn) und Kapitaleinkommen (Gewinn) ein. Basiere ersteres auf
Arbeit, so sei letzteres ein „arbeitslos“ bezogenes Einkommen.
Doch
selbst dieser Konsens verliert in der weiteren Auseinandersetzung an
Tragfähigkeit. Piketty lasse mit seinem eher „schlampigen“ Umgang mit den
Klassikern und seinem unscharfen Vermögensbegriff die Unterschiede
verschwimmen.
In
der deutschen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) habe sich eine klare
Unterscheidung von Arbeitnehmerentgelten und Unternehmens- bzw.
Vermögenseinkommen durchgesetzt. Insofern seien die Kapitaleinkommen, die
Piketty mit „Mieten, Dividenden, Zinsen, Gewinnen aus Unternehmen“ (z.B. S. 35)
bezeichnet, mit dem „arbeitslosen“ Einkommen der Klassiker zu identifizieren.
Die Arbeitseinkommen andererseits seien bei Piketty „Löhne, Gehälter, Prämien,
Boni, Einkommen aus selbstständiger Arbeit usw. sowie andere Erwerbseinkommen“
(ebd.) und müssten demnach vollständig dem Arbeitnehmerentgelten zugerechnet
werden.
Der
Bogen wird zurück zum Vermögens- bzw. Kapitalbegriff geschlagen. Eine TN hält
fest, dass nun aber Einkommen in Form von Ersparnissen zu Kapital und damit
soziale Unterschiede der Einkommensbezieher in gewisser Weise ohnehin verwischt
würden. Es wird erwidert, dass aus den unterschiedlich hohen Sparquoten bei
Löhnen und Gewinnen durchaus noch auf die Einkommensbedingtheiten des Vermögens
geschlossen werden könnte.
Aus
der Diskussion geht hervor, dass die Qualifizierung des Vermögens bzw. des
Kapitals über sein Zustandekommen aus dem Einkommensbezug doch seine
Berechtigung hat. Zumal, da der Erbvermögenszufluss im jährlichen Strom der
„arbeitslosen“ Einkommen einen nicht unbeträchtlichen Teil ausmacht. Zwar
bleiben die makroökonomischen Größen in ihrer aggregierten Entwicklung davon
unberührt, die soziale Zusammensetzung von Einkommen und Vermögen aber scheint
einer Entwicklung zu unterliegen, die Piketty mit „Ungleichheit“ beschreibt.
b) Zusammenhang
„schwaches Wachstum“ und „unverhältnismäßige“ Bedeutung ererbter Vermögen
Die
Debatte dreht sich um folgende Aussage Pikettys:
„Wenn
das Wachstum der Bevölkerung und der Produktivität relativ schwach ist,
erlangen die in der Vergangenheit angehäuften Vermögen zwangsläufig eine
beträchtliche, potenziell unverhältnismäßig große Bedeutung, die sich auf die
betreffenden Gesellschaften destabilisierend auswirken kann.“ (S. 25)
Über
den behaupteten Zusammenhang herrscht weitgehend Uneinigkeit. Makroökonomisch
sei es doch völlig irrelevant, ob Vermögen ererbt sei oder nicht, die generelle
Entwicklung des Vermögens bliebe dieselbe. Dagegen wird argumentiert, dass dies
mikroökonomisch selbstverständlich von Bedeutung sei, da unterschiedlich große
individuelle Vermögen auch unterschiedlich hohe Einkommen erzielten. Wieder
läuft die Debatte auf eine soziale Differenzierung der Einkommen und Vermögen
und ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Leben hinaus.
Es
wird zu bedenken gegeben, dass Piketty in diesem Satz seine Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Theoriefamilie der Ökonomik offenbart: dem neoklassischen
Modell nach Robert M. Solow. In diesem Modell werde eine eingleisige
Kausalrichtung zwischen Wachstum und Kapitalanhäufung behauptet, wo doch
genauso gut die Kapitalanhäufung auf das Wachstum zurückwirken könne. Letzteres
hänge aber gerade mit der sozialen Dimension der Verteilung zusammen und sei
von diesem Modell nicht berücksichtigt. Der von Piketty dargestellte
Zusammenhang zwischen schwachem Wachstum und ererbtem Vermögen erscheine also
auf paradigmatischer Ebene sehr fragwürdig, obgleich er die soziale Dimension
der Einkommens- und Vermögensverteilung sehr wohl ernst nehme.
Dagegen
wird ins Feld geführt, dass Piketty doch sehr kritisch mit den Vertretern des
neoklassischen Wachstumsmodells ins Gericht gehe. Einen „ausgeglichenen
Wachstumspfad“ könne Piketty bei Abgleichung des Modells mit den empirischen
Daten ja auch nicht feststellen. Die weiterführende Frage nach den
modelltheoretischen Grundlagen Pikettys wird vertagt.
c) Die Bedeutung des
Kapital-Einkommens-Verhältnisses (KEV)
Nach
den gängigen ökonomischen Modellen („Wachstumspfad“) verlaufe die
KEV-Entwicklung ansteigend, d.h. der angehäufte Kapitalstock wachse im
Verhältnis zum Einkommen stetig an. Mit den empirischen Daten aus dem 20. Jhd.
habe Piketty jedoch zeigen können, dass dies in der Realität nicht der Fall sei
(S. 45). Offenbar seien Entwicklungen möglich, die das KEV nachhaltig
verändern, d.h. das Verhältnis von Kapital zu Einkommen drastisch senken
könnten.
Die
Erklärungen für diesen Umstand schwanken in der Gruppe zwischen
historisch-empirischen Begründungen und Modellannahmen. Zum einen werden die
Weltkriege für die KEV-Änderung verantwortlich gemacht, zum anderen die
Überlegung angeführt, bei einem Siebenfachen des Kapitals im Verhältnis zum
Einkommen (KEV = 700 %) komme das Wachstum gleichsam „natürlich“ zum Erliegen.
Eine unbegrenzte Kapitalakkumulation, wie sie Marx angenommen habe, sei mit den
Darstellungen Pikettys jedenfalls nicht vereinbar. Eher spreche einiges für die
Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, nach der hochentwickelte Gesellschaften immer
weniger investierten.
Was
aber hat nun das KEV mit der Ungleichheit der Vermögensverteilung zu tun? Als
aggregierte makroökonomische Größe könne das KEV keine Aussage dazu treffen. Es
wird erwidert, dass Piketty das „neutrale“ KEV des neoklassischen Modells
implizit mit der Ungleichheit der Vermögensverteilung hinterlegt, die er im
späteren Verlauf des Buches darstellt. Piketty dürfe nicht auf seine formalen
Aussagen innerhalb des von ihm verwendeten ökonomischen Modells reduziert
werden, was auch für r > g gelte. Man könne sicherlich die Frage stellen,
inwieweit Rendite (r) und Wachstumsrate (g) überhaupt vergleichbar seien. Aber
im Wesentlichen sei es die Absicht Pikettys, den (empirischen) Kapitalismus als
eine grundsätzlich ungleichheitsfördernde Wirtschaftsweise zu kennzeichnen,
wenngleich er dazu auch die Modellsprache der Neoklassik nutze.
Für
dieses Vorhaben müsse aber doch zum Beispiel der Verteilungsmodus der Einkommen
betrachtet werden, wird eingewendet. Dieser ergebe sich maßgeblich aus der
Verhandlungsmacht von Kapital und Arbeit. Erscheine r > g im Modell wie
empirisch als eine „natürliche“ Gegebenheit, so sei dieses Verhältnis doch
letztlich ein jederzeit modifizierbares.
Die
Debatte kehrt auf Umwegen zur Eingangsdiskussion zurück: Was ist Rendite? Ein
natürliches Abfallprodukt des Kapitals oder eine sozial determinierte Größe,
ein Anteil am Einkommen, der verhandelbar ist? Die Seite, auf die sich Piketty
in dieser Frage stelle, scheine nicht zuletzt aus seinen modellimmanenten
Formulierungen heraus (KEV, r > g) nicht ganz klar.
Zuletzt
wird die Frage gestellt, wo die seiner Prognose nach immer weiter zunehmende
Ungleichheit gesellschaftlich hinführe. Er selbst mache dazu kaum eine Aussage.
Mutmaßungen werden laut, dass letztlich doch politisch gegengesteuert werde
(etwa Enteignungen). Die Weltkriege des 20. Jhd. hätten dies schon auf
eigentümliche Weise gezeigt, wird diese Aussage fortgeführt: Letztlich kippe
bzw. „korrigiere“ sich das System, es komme zu verschiedenen Arten von
Zusammenbrüchen wie Revolutionen, Kriegen oder Bürgerkriegen.
TOP 4 – Vorbereitung der nächsten Sitzung
Die
Diskussion zur Quelle der 2. Sitzung wird als abgeschlossen betrachtet. Bis zur
nächsten Sitzung am 24.04.2015 soll das 1. Kapitel aus Pikettys „Kapital“
gelesen werden, das bereits auf der Seite http://evoeco.forschungsseminar.de/ verfügbar ist