Georg Quaas

Vorlesung zur Moralphilosophie von Richard M. Hare: Ethik als moralisch neutrale Logik moralischen Argumentierens



Zur Einordnung der Ethik R.M.Hares

Ethik im wörtlichen Sinn genommen ist die Sittenlehre, die traditionellerweise den praktischen Teil der Philosophie bildet. In ihr geht es darum, moralische Sätze zu diskutieren, das heißt, sie aufzugreifen oder aufzustellen, sie zu begrün­den oder ad absurdum zu führen sowie ihre Konsequenzen deutlich zu machen. Moralische Sätze haben aber einen normativen Charakter. Deshalb scheint es unvermeidbar zu sein, daß auch die Ethik einen normativen Charakter hat. In der Regel ist dies auch so gewesen. Daneben bildeten sich aber schon in der Neuzeit (Spinoza) Tendenzen aus, eine beschreibende Ethik zu schaffen, Tendenzen, die in der Philosophie von Moritz Schlick einen klaren Ausdruck fanden. Im Unter­schied zur Pflichtenethik (z.B. Kants) stellt Schlicks "Ethik der Güte" keine Nor­men auf, nach denen sich die Menschen zu richten haben, sondern sie macht sich die sowieso gültigen Normen zum Gegenstand und spricht sie aus. Die Ethik be­steht so im wesentlichen aus (wahren oder falschen) Aussagen über die in einer bestimmten Gemeinschaft gültigen Normen.

Schlicks Ethik ist nun nicht einfach deswegen positivistisch, weil Schlick ein Vertreter des Neopositivismus genannt werden kann; sie ist es, weil die beste­henden Normen als das Positive gesetzt werden, das der Theoretiker lediglich zur Kenntnis zu nehmen hat, dessen Ursachen und Folgen er erforschen kann, die aber sonst nicht zu hinterfragen sind: Es ist nicht nötig und auch nicht möglich, daß der Wissenschaftler in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler Stellung zu den Normen nimmt, daß er sie kritisiert oder argumentativ begründet. M.a.W.: eine beschreibende Ethik hat zwar Normen zum Gegenstand, sie ist aber selbst nicht normativ, sie sagt uns nicht, ob die Normen, die sie darstellt, legitim sind oder nicht, ob man sie befolgen soll oder nicht.

Eine rein beschreibende Ethik mag für einen praktisch interessierten Menschen unbefriedigend sein, wenn er Orientierungshilfen für sein eigenes Handeln erwar­tet. Sie ist aber auch aus rein theoretischer Sicht unbefriedigend, weil sie nämlich wenig oder nichts über den Mechanismus der Begründung von moralischen Sät­zen zu sagen hat. Daran müssen wir aber als Theoretiker genauso interessiert sein wie an der Beschreibung der jeweils herrschenden Normen: das Analysieren der historischen und aktuellen Prozesse, die zur Produktion, zur Verallgemeinerung, zur Destruktion und zum Wandel von Normen führen.

Eine nicht-normative Ethik muß deshalb beschreibend und erklärend sein. Und eine solche nicht-normative Ethik, die uns einen (den?) Mechanismus der Be­gründung von moralischen Sätzen darstellt, hat (u.a.) Richard M. Hare entwickelt. (Die Sprache der Moral, Freiheit und Vernunft.)

"R.M.Hare, geb.1919, ist seit 1966 Professor für Moralphilosophie an der Uni­versität Oxford." (Covertext in Freiheit und Vernunft.)

Die von ihm entwickelte Theorie kann in einem konzeptionell zentralem Punkt als Anwendung des kritischen Rationalismus auf die Moralphilosophie gedeutet wer­den: der Mechanismus des moralischen Begründens funktioniert nach dem trial-and-error-principle. Da wir es auf dem Gebiet der Ethik aber mit moralischen Sätzen zu tun haben, die einen völlig anderen Status als wissenschaftliche Theori­en aufweisen, müssen wir die Unterschiede beachten, die bei der Anwendung des gleichen Grundprinzips (des modus tollens) eine Rolle spielen. Zunächst brau­chen wir eine exakte Charakteristik moralischer Ausdrücke.

Die Merkmale moralischer Sätze

Zunächst muß festgestellt werden, wozu überhaupt moralische Sätze da sind: Moralische Sätze lösen ein moralisches Problem, und dieses besteht in der Un­entschiedenheit einer Handlungsalternative. Es kann durch die Frage formuliert werden: "Was soll ich tun?" Aber nicht alle Antworten auf diese Frage sind mo­ralisch. ("Einkaufen gehen!") Das liegt darin, daß nicht alle Situationen, in denen man sich entscheiden muß, moralisch sind. Eine notwendige Bedingung dafür ist, daß die Situation eine allgemeine Schwierigkeit darstellt, die für alle Menschen - wenigstens im Prinzip - eine Bedeutung hat. Dies können wir exakt an den Ant­worten, den Sätzen festmachen, die auf die obige Frage gegeben werden. Um moralisch zu sein, müssen Sätze die im folgenden beschriebenen Eigenschaften haben:
Moralurteile und andere Arten wertender Ausdrücke sind universa­lisierbar und präskriptiv.

Was heißt das?

Universalisierbare Sätze im Sinne Hares legen denjenigen, der sie verwendet, darauf fest, Fälle, die dem gerade beurteilten Fall in relevanter Hin­sicht ähnlich sind, in der gleichen Weise zu beur­teilen (Universalisierbarkeit). Die Universalisierbarkeit allein ist kein typisches Kennzeichen moralischer Sätze. Wenn ich beispielsweise von diesem Stück Kreide behaupte, daß es weiß ist, dann ist dieser Satz in dem Sinne universalisierbar, daß ich mich mit der Anwen­dung des Prädikats "weiß" darauf verpflichtet habe, alle jene Dinge, die dem Stück Kreide in puncto Farbe ähnlich sind, ebenfalls als "weiß" zu bezeichnen. Die Universalisierbarkeit beruht auf der sprachlichen Regel, wie ich das Wort 'weiß' zu verwenden habe. Diese Regel ist allgemein, d.h., sie gilt nicht nur für einen einzigen Anwendungsfall, sondern für potentiell unendlich viele. In gleicher Weise sind auch moralische Sätze universalisierbar. Wenn ich etwas als "moralisch sauber" bezeichne, lege ich mich damit darauf fest, alles andere, das diesem Fall in moralisch relevanter Hinsicht ähnlich ist, ebenfalls als "moralisch sauber" zu bezeichnen. Dabei kann durchaus offen sein, was die moralisch rele­vanten Gesichtspunkte sind, unter denen wir verschiedene Fälle miteinander zu vergleichen haben. Dies ist ja auch für physische Eigenschaften offen und wird in dem Maße präzisiert, wie dafür ein Bedürfnis aufkommt.

Präskriptive Sätze schreiben dem Adressaten eine bestimmten Handlung (verbindlich) vor. "Du sollst nicht töten." ist eine Vorschrift und keine Beschrei­bung eines Zustands oder einer Handlung. Die Verbindlichkeit ist auch dann beansprucht, wenn sie vom Adressaten nicht anerkannt wird. Ohne diese Verbind­lichkeit würde es sich nicht um einen moralischen Satz handeln: Ein Satz, der keinerlei Verbindlichkeit für irgend jemanden beansprucht, kann Handeln nicht normieren und deshalb auch keine moralische Qualität haben. Beispiele für nicht präskrip­tive Sätze sind Wünsche: "Ich wünsche mir eine zweite Chance" - beansprucht keinerlei Verbindlichkeit für irgend jemanden.

Diese beiden Merkmale, die Universalisierbarkeit und die Präskriptivität sind formale, logische Eigenschaften mora­lischer (wertender) Ausdrücke, insbeson­dere des Wortes "sollte" in seiner präskriptiven Verwendungsweise. Einzeln, für sich genommen können sie keine inhaltlichen (moralischen) Schlußfolgerungen rechtfertigen. Ihre Bedeutung für die Begründung und Diskussion moralischer Probleme entspringt daraus, daß eine logisch zwingende Argumenta­tion erst durch diese logischen Eigenschaften moralischer Aus­drücke ermöglicht wird. Ein universalisierbarer Ausdruck, der nicht präskriptiv ist, schreibt anderen Menschen in ähnlichen Situationen nichts vor, kann also auch nicht zur Lösung morali­scher Probleme herangezogen werden. Und ein präskriptiver, aber nicht universalisier­barer Ausdruck, wie zum Beispiel ein Wunsch, der in Form einer Bitte geäußert wird, bedeutet nicht, daß in ähnlichen Situationen die gleiche Handlung vorge­schrieben ist.

Der Mechanismus der Moralbegründung

Auf dieser allgemeinen, logischen Grundlage konstruiert Richard M. Hare einen Mechanismus der Moralbegründung, der dem von K. R. Popper vorgeschlagenen Falsifikationsmechanismus wissenschaftli­cher Theorien analog ist. Zunächst muß eine Erkenntnis erwähnt werden, die logischer Art ist und die für jede moderne Ethik eine grundlegende Bedeutung hat:

Das Humesche Gesetz:
Kein Moralprinzip kann allein aus Tatsachen abgeleitet werden.

Dem entspricht die (logische) Forderung:
Kein Sollen aus dem Sein ableiten!

Hierin besteht eine gewisse Parallelität zum Induktionsproblem: Genauso wenig wie eine wissenschaftliche Theorie aus Tatsachen abgeleitet oder mit ihrer Hilfe begründet werden kann (Poppers Kritik am Induktionsprinzip), kann ein Moral­prinzip allein mit Hilfe von Tatsachen (darunter auch die Einstellungen der Men­schen) begründet werden.

Im Grunde ist eine morali­sche Regel oder ein (präskriptiver) wertender Ausdruck eine Set­zung, um diesen Ausdruck Hans Reichenbachs zu verwenden, für die es keine Begründung im Sinne eines logischen Schlusses aus den vorliegenden Tat­sachen gibt; doch im Unterschied zu einer (wis­senschaftlichen) Theorie be­schreibt ein wertender Ausdruck nicht nur bestimmte Fakten, sondern schreibt zugleich ein bestimmtes Handeln vor (empfiehlt, erlaubt, ge- oder verbietet es).

Wiederum analog zur Überprüfung wissenschaftlicher Theorien voll­zieht sich die moralische Argumentation: Aus der universellen Vorschrift leiten wir mit logi­schen Mitteln singuläre Vorschrif­ten ab, insbesondere solche, die uns selbst be­treffen, um zu sehen, ob wir die Konsequenzen unserer moralischen Prinzipien akzeptieren können. Hier sind wieder die logischen Schlußregeln, unter anderem der modus tollens, zuständig. Aus dem allgemeinen moralischen Sätzen leiten wir also singuläre, überprüfbare Folgerungen ab. Aber woran sollen Moralurteile überprüft werden?

Die letzte falsifizierende oder verifizieren­de Instanz eines Moralurteils sind die eigenen Interessen, die entweder gegeben sind oder die angenommen werden können, insofern man sich selbst von jenen Konsequenzen betroffen vorstellt.

Moralisches Argumentieren hat bestimmte Voraussetzungen: Ohne ein einiger­maßen entwickeltes Vorstellungsvermögen und ohne eige­nes (Mit-) Empfinden ist eine moralische Argumentation nicht möglich; ebenso ohne ein hinreichendes Wissen über die relevanten Tatsachen und ohne die Logik moralischer Aus­drücke.

Das Vorstellungsvermögen wird zum Beispiel durch Kunst und Literatur entwickelt. Selbst wenn die Kunst keinerlei moralischen Inhalt transportiert, erfüllt sie doch eine für die Moral wesentliche Funktion: Sie regt die Phantasie der Men­schen an, über die Befindlichkeit ihrer Mitmenschen, die sich in anderen Situa­tionen befinden, nachzudenken.

Die Medien (Presse, Funk, etc.) haben die für die Moral wesentliche Funktion, über die Folgen unserer Handlungen zu informieren. Und schließlich brauchen wir die Logik, um überhaupt einen zwingenden Schluß oder eine Argumentation zuwege zu bringen.

Das eigene Interesse ist die Basis der Moraldiskussion, durch die die utilitaristischen Weise der Moralbegründung realisiert wird. Man wird realisti­scherweise nur solche Moralprinzipien akzeptieren, deren Folgerungen darüber, was ich persönlich tun sollte, mit meinen eigenen Interessen nicht in Konflikt geraten. Wenn letzteres der Fall ist, werden wir das entsprechende Moralprinzip ablehnen. Aber auch andere werden es ablehnen, wenn ein moralischer Satz mit ihren Interessen in Konflikt gerät. Aber Interessen allein reichen nicht aus, um moralische Sätze zu begründen. Da Moral von vornherein den anderen Men­schen mit einbeziehen muß, besteht eine Grundfigur der moralischen Argumenta­tionsweise darin, sich gedanklich in die Lage derjenigen zu versetzen, die von den Mo­ralurteilen, die wir akzeptieren, und vor allem von den Handlungen, die sich von diesen Moralurteilen leiten lassen, betroffen sind oder sein könnten. Wir werden von uns selber nicht mehr verlangen (lassen), als wir von anderen verlangen oder als andere von sich selbst verlangen (lassen). Umgekehrt werden wir auch von anderen nicht mehr verlangen können, als wir selbst zu geben bereit sind.

Um die Grenzen der Moral zu erkennen, muß man wissen, wodurch das eigene Interesse verletzt werden kann. Das sind nicht nur die #besonderen Interessen der anderen Menschen, sondern auch die eigenen Ideale, wenn wir für deren Ver­wirklichung ohne Rücksicht auf unsere eigenen Interessen eintreten. Letzteres definiert Hare als Fanatismus.

Der utilitari­stische Standpunkt Hares führt unter der Voraussetzung, daß wir keine Fanatiker sind, sondern unsere Ideale unseren Interessen unterordnen, bei­spielsweise zu einer liberalistischen Moral gegen­über jeder Art von Rassenvorur­teilen. („Stell dir vor, du wärst ein Schwarzer! Würdest du es dann richtig finden, daß Weiße die bessere Arbeit bekommen sollen?“)

Wirkungslos ist die morali­sche Argumentation gegenüber denjenigen, die eine Handlung entwe­der für moralisch irrelevant halten („Schwarze sind eben für die groben Arbeiten von Natur aus besser geeignet als Weiße, das ist gar kein morali­sches Problem“) oder die bereit sind, auch ihre eigenen Interessen einem Ideal aufzuopfern wie der Fanatiker („Wenn ich ein Schwarzer wäre, würde ich es trotzdem richtig finden, zu einer Art Sklavenrasse zu gehören.“)

Die Grenzen der moralischen Argumentation zwingen jedoch nicht dazu, die Ethik, die hier als eine moralisch neutrale Logik moralischen Argumentierens verstan­den wird, in Frage zu stellen oder abzuändern: Wer nur präskrip­tiv oder mit nur universalisierbaren Ausdrücken argumentiert, argumentiert eben nicht moralisch. Nur präskriptiv wäre der Satz: „Ich habe gar nicht gesagt, daß Schwarze immer die gröberen Arbeiten machen sollen, nur dieser Schwarze hier soll das tun.“ - Nur universalisierbar, aber nicht präskriptiv: „Ein Schwarzer eignet sich nun einmal besser für gröbere Arbeiten.“) In beiden Fällen wird die moralische Argumentation umgangen. Der Fanatiker dagegen bleibt auf der Ebene der Moral. Aber dafür zahlt er u.U. für seinen rücksichts­losen "Idealismus" mit der Verletzung seiner eigenen Interessen.

Hare hält es sogar für möglich, mit Hilfe seiner Moralphilosophie das Verhältnis zwi­schen Mensch und Tier in sinnvoller Weise zu diskutieren: "Mit Hilfe dieses Begründungsverfahrens können wir auch erklären, warum wir gewisse Pflichten gegenüber Menschen und Tieren, gewis­se andere nur gegenüber Menschen ha­ben. So würden wir beispiels­weise von niemanden glauben, daß er Tiere unter­drückt, weil er ihnen keine Selbstverwaltung zugesteht; andererseits wird es je­doch im allgemeinen für falsch gehalten, Tiere zum Spaß zu quälen." (Freiheit und Vernunft, S.246.) Denn beide, Tier und Mensch, empfinden Schmerz. Des­halb ist es möglich, zu fragen: „Wie würdest du es finden, wenn man dir diesen Schmerz zufügen würde?“

Zur Kritik der utilitaristischen Ethik Hares

Dieses wie auch das andere von Hare in diesem Zusammenhang ge­wählte Bei­spiel (Hunde beißen einen festgebundenen Bär) lassen aber nicht diejenigen mo­ralischen Fragen erkennen, um die es heute geht: Schließlich quält niemand zum Spaß Kaninchen, wenn er an ihnen Kosmetika testet, die von einem Teil der Menschen ver­wendet werden. Doch abgesehen von dieser Relevanzfrage krankt der Argumentationsmechanismus grundsätzlich an dem Problem, was es heißen mag, sich in die Situation eines Tieres zu versetzen, das von unseren Handlungen betroffen ist. Zwar gibt Hare an einer Stelle zu, "daß die Schwierigkeit, zu wis­sen, was es bedeuten würde, wie ein Bantu zu fühlen, nicht so groß ist wie die, zu wissen, was es bedeuten würde, wie ein Ochse zu fühlen" (S.229), aber er zieht daraus keine Konsequenzen. Daß wir nicht auf diese Weise argumentieren kön­nen, bemerkt man spätestens dann, wenn man die Schwierigkeiten, sich in die Lage "des anderen" zu versetzen, unendlich vergrößert: Wie verhalten wir uns gegenüber der pflanz­lichen und der unorga­nischen Natur? Kann man sich etwa in die Lage eines Urwaldbaumes, eines Braunkohlereviers oder eines über­säuerten Sees versetzen? Müßte die Menschheit erst eine entspre­chende Vorstellungsfä­hig­keit entwickeln, um sich Moralprinzipien für den Umgang mit der "Umwelt" zu geben, ihr Untergang wäre jetzt schon be­schlossene Sache.

Aus diesem Hinweis auf die pflanzliche und die unorganische Natur könnte man die Schlußfolgerung ziehen, daß die Ausdehnung der moralischen Argumentation hier eben etwas zu weit geht, daß es im strengen Sinn keine Moral für den Um­gang mit dem nicht-mensch­lichen Rest der Welt gibt. Konsequenterweise müßte man dann auch bestreiten, daß es einen moralischen Kodex für das Verhal­ten gegenüber Tieren geben kann. Diese, bloß partiale Kritik an Hares Konzep­tion würde sich die Sache aber in zweifacher Hinsicht etwas zu leicht machen: Auf der einen Seite würde das existierende Problem des Umgangs mit der Natur auf eine rein technische Frage reduziert, es hätte keine moralische Dimension mehr; auf der anderen Seite könnten wir die im Grunde willkürliche Einschrän­kung des Gültigkeitsbereiches der Hareschen Ethik auf "menschli­che Gegenpole" nicht erklären. "Willkürlich" jedenfalls ist diese Einschränkung, da Prinzipien für das Verhalten gegenüber der (unorganischen) Natur ebenfalls universalisierbar und präskriptiv sein können, dann aber im Sinne Hares Wert- oder Moralurteile sind.

Um das skizzierte Problem in seiner ganzen Schärfe zu stellen, wollen wir hier also nicht den bequemen Weg gehen, die moralische Qualität von Urteilen davon abhängig zu machen, ob sie sich auf das Verhältnis zwischen (mindestens zwei) Menschen bezieht (das "soziologische Extrem" in der Moralphilosophie); wir halten es im Gegenteil für eine rein terminologische Frage, von einer Moral des Umgangs mit der (nicht-menschlichen) Natur zu reden oder nicht. Hält man an der obigen Definition der Moralurteile anhand ihrer grundlegenden logischen Eigenschaften (Universalisierbar­keit und Präskriptivität) fest, so stellt sich das Problem, wie eine solche Moral zu begründen ist, theoretisch. Und die Lösung eben dieses Problems ist es auch, was von dem Philosophen in praktischer Hin­sicht verlangt werden kann.

Eine Korrektur des Hareschen Argumentationsverfahrens muß davon ausgehen, daß es nicht in jedem Fall möglich ist, sich in die Lage des Betroffenen zu verset­zen. Dieses Problem ist ja soeben dargestellt worden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer oder was von unseren Handlungen als derart "betroffen" gelten kann, daß er oder es in einer moralischen Überlegung be­rücksich­tigt werden müßte. Wenn ich, um meiner Frau eine Freude zu ma­chen, ihr Blumen schenke, die gerade frisch geschnitten worden sind, dann könnte ein etwas fanatischer "Grüner" in diesem Zusam­menhang die moralische Frage aufwerfen, ob es ge­rechtfertigt werden kann, wegen eines augenblicklichen Glücksgefühls das ein­malige Leben einer Pflanze zu opfern. Ein solches "Problem" wür­den wir in der Praxis als "lächerlich" zurückweisen, doch damit ist ja keineswegs geklärt, warum wir dies tun können, und zwar mit Recht.

Beginnen wir mit der ersten Korrektur. Hares Mechanismus der Überprüfung unserer Moralurteile verlangt, die Konsequenzen zu ziehen und zu überprüfen, ob wir diese auch dann noch akzeptieren können, wenn wir selbst davon betroffen wären. Es gibt aber Fälle, bei denen wir aus prinzipiellen Gründen niemals direkt betroffen sein können und bei denen wir uns folglich auch nicht vorstellen kön­nen, uns in der Lage des Betroffenen zu befinden. Im Falle des Urwaldbaumes scheint dies klar zu sein: Ich würde gern den kennenlernen, der versichert, er könne sich in die Lage eines alten Baumes versetzen, der gerade gefällt wird!

Anhand dieses Beispiels ist aber auch leicht zu bemerken, daß es gar nicht nötig ist, sich in die Lage "des anderen" zu versetzen. Es gibt indirekte Wirkungen die­ser Handlungen (des Fällens von Urwaldbäumen), die auf uns Menschen zu­rückwirken (werden), und die wir uns sehr gut vorstellen können, weil einige von uns (zufälligerweise) schon davon betroffen worden sind: Sie haben erlebt, wie ein ihnen Nahestehender an Hautkrebs elend zugrunde gegangen oder Opfer ei­nes Hurikans geworden ist.

Das legt nahe, vor allem die direkten und indirekten Konsequen­zen zu bedenken, die Handlungen auf uns selbst als Handlungsträ­ger haben, haben werden oder haben können. An die Stelle des betroffenen Objekts dieser Handlungen tritt damit in erster Linie das handelnde Subjekt, insofern es vermittelterweise selbst zum Objekt wird.

Offensichtlich ist mit diesem Vorschlag das Problem, sich in die Lage eines ande­ren zu versetzen, einfach dadurch beseitigt, als es sich nicht mehr als notwendig erweist. Wenn es möglich ist, auch dann zu universalisierbaren und präskriptiven Moralurteilen zu gelangen, wenn wir uns lediglich auf unser Interesse als Han­delnder und indirekt Betroffener berufen, dann braucht das Vor­stellungsvermögen auch nur in dem Maße strapaziert zu werden, wie es für einen mit durchschnittli­cher Phantasie begabten Menschen, der sich in der Regel eben nicht in die Gefüh­le eines Bären ge­schweige denn einer Waldameise hineinversetzen kann, möglich ist. Das schließt nicht aus, in allen den Fällen, in denen Menschen direkt betroffen sind, der Argumentationsweise Hares genau zu folgen.

Nun kann es aber Menschen weißer Hautfarbe geben, denen es durch­aus schwer fällt, sich vorzustellen, sie wären in der Lage eines Schwarzen. Ihre Charakteri­sierung als phantasielose Geschöpfe, ver­bunden mit dem Hinweis auf die morali­sche Funktion der Kunst, die darin bestehen soll, die soziale Phantasie der Men­schen zu ent­wickeln, scheint mir in dieser Beziehung ein recht stumpfes Schwert gegen den Rassismus zu sein. Es trifft ihn zwar, aber nur um ihn zu verprellen: phantasielose Rassisten sind zwar in der Masse keine Fanatiker, aber sie sind im Grunde amoralisch. - Dies widerspricht aber der Tatsache, daß sie in der Regel durchaus eine Moral haben, wenn auch nicht die liberale eines Richard Hare.

Eine wahrhaft neutrale Ethik hat die Aufgabe, auch die Moral eines Rassisten oder eines Nazis, insofern sie eine solche haben, zu erklären. Da diese Subjekte einen prinzipiellen Unterschied zwischen sich und der diskriminierten Rasse sehen, hat es auch keinen Zweck an ihr Vorstellungsvermögen zu appellieren, also zum Beispiel einem eingefleischten Rassisten Glauben machen zu wol­len, er könne infolge einer Krankheit zu einem Schwarzen werden. Es genügt völlig, ihn auf die politischen Gefahren aufmerksam zu machen, die ihm selbst und seines­gleichen aus seiner diskriminierenden Verhaltensweise erwachsen können, insbe­sondere dann, wenn er in einem Land lebt, in dem die Farbigen leicht die Ober­hand gewinnen können. In dem Maße wie die Gegenmacht wächst, wird der (nicht-fanatische) Rassist auch zu der Überzeugung gelangen, daß es für ihn bes­ser ist, wenn er auch die Mitglieder anderer Rassen als Seinesgleichen ansieht und behan­delt. Selbstverständlich gilt dies nicht für den Fanatiker, der seinen Rassismus angesichts eines wachsenden Selbstbewußtseins der unterdrückten Rasse eher noch verstärken wird. Da der Fanatiker alle Interessen seinem Ideal unterordnet, kann man ihm auch nicht mit seinem wohlverstandenen Eigeninteres­se kommen.

Wie man sieht, ist eine auf das Interesse des Handlungsträgers abgestellte Moral­philosophie nicht nur allgemeiner (bezüglich der Anwendbarkeit auf den nicht-fanatischen Rassisten und die "Um­weltmoral"), sondern auch realistischer in dem Sinne, als sie solche politischen Realitäten wie die Macht der Betroffenen ins Kalkül einbezieht. Es ist aber wesentlich, zu bemerken, daß die Macht der Be­troffenen damit nicht zum Angelpunkt der Moralent­wicklung des Akteurs wird. Das moralische Problem, wie wir uns zu Tierversuchen verhalten sollten, entstand ja nicht dadurch, daß sich beispielsweise die Kaninchen aller Laboratorien verei­nigt und damit eine größere Macht gegenüber den Menschen gewonnen hätten. Dieses Problem ergibt sich vielmehr aus den Wirkungen, die eine leidende Krea­tur auf den Menschen als empfindungsfähi­ges und darum mitleidendes Wesen ausübt. Weil viele Menschen einen seelischen Schmerz empfinden, wenn einem Tier ein körper­licher Schmerz zugefügt wird (eine absolut nicht-moralische Tat­sache, die vielleicht ein Anthropologe erklären kann), können diese Menschen einem Moralurteil nicht zustimmen, nach dem es den Menschen erlaubt sein soll, mit Tieren so umzugehen, wie es ihnen beliebt. Da es andererseits unumgänglich ist, zur physischen Reproduktion der menschlichen Existenz Tiere genau nach diesem Spinozistischen Grundsatz zu behandeln, möchten diese Menschen seine Anwendung auf die wirklich notwendigen Fälle beschränkt wissen. Zum Beispiel: "Keine unnötigen Tierversuche!" Daß das Schlachthaus prinzipiell eine grausame und unmoralische Einrichtung ist, wird man selten als ein ernst gemeintes Argu­ment zu hören bekommen, obwohl die Leiden dieser Kreaturen dort einen Höhe­punkt erreichen, der selbst für die nicht direkt be­troffenen Menschen wohl nicht ohne einen gewissen Verlust an Mensch­lichkeit zu ertragen ist.

Ein moralischer Grundsatz, der ein bestimmtes Handeln gegenüber Menschen und ihrer Umwelt allgemein verbindlich vorschreibt, kann anhand seiner inakzepta­blen Konsequenzen, die direkte oder indirekte Wirkungen der Handlungen auf den Aktor oder auf die, die er als Seinesgleichen ansieht, beschreiben, "falsifiziert" werden.

Damit kommen wir zu der Frage, wen der Akteur als "Seinesgleichen" ansieht, oder allgemeiner formuliert: welche Handlungsmomente als "in moralischer Hin­sicht relevant" hervorgehoben werden. Um an das oben genannte Beispiel an­zuknüpfen: Warum ist das Leben der Rosen, die ich meiner Frau zum letzten Hochzeitstag geschenkt habe, in moralischer Hinsicht völlig irrelevant? Aus der Sicht Harescher Moralphilosophie könnte man mit dem Hinweis argumentie­ren, daß die Rose in Ermangelung eines Nervensystems keinen Schmerz empfinden könne, wir also auch nicht befürchten müßten, einen solchen zu erleiden, wenn wir Rosen wären. Folglich gibt es auch keinen Grund, die universale Vorschrift abzulehnen, daß man seiner Frau zum Hochzeitstag Rosen schenken sollte... Aber ist diese Argumentation nicht an den Haaren herbeigezogen? Ist es nicht vielmehr so, daß wir Männer unseren Frauen auch dann noch Rosen schenken würden, wenn wir genau wüßten, daß die Rose von ihrer Art Todesschmerz ganz und gar ergriffen ist und genau daran zugrunde geht? Dem "Röslein rot" hilft bekanntlich kein "Weh" und "Ach"!

Doch es finden sich immer Leute, die nicht nur das Gras wachsen, sondern selbst Steine schreien hören. Die meisten von uns wissen jedoch, was man davon zu halten hat. Fakt ist, daß die menschliche Sinnlichkeit Derartiges nicht wahrnehmen kann - trotz der enormen Fortschritte, die die Menschheit bei der Verbesserung und Unterstützung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit bisher gemacht hat. Das heißt aber auch: Sollte es uns jemals gelingen, so etwas wie Rosenschreie wahrnehmbar zu machen, dann wird sich eine wachsende Zahl von Menschen finden, die es für unmoralisch halten, wenn emotional verbundene Paare ihr Glück auf Kosten eines Blumen­lebens feiern möchten.

Daß wir die Wirkungen, die von unseren Handlungen ausgehen, wahr­nehmen, ist natürlich eine notwendige Voraussetzung dafür, daß sie irgendeine Rolle in unse­ren moralischen Überlegungen spielen. Eine weitere besteht darin, daß sie uns in irgendeiner Weise berühren: dies setzt eine tatsächliche, wenn auch nur partielle Gemeinsamkeit voraus. (Diese muß allerdings nicht so weit gehen, daß wir uns in die Lage eines beliebigen Objekts versetzen können müssen.) Darüber hinaus muß man in bestimmten Fällen auch gewisse Notwendigkeiten in Betracht ziehen, denen die menschliche Exi­stenz unterliegt: Obwohl ich den die Leiden, die ein Schwein im Schlachthaus durchmacht, sehr gut wahrnehmen kann, wenn ich dies will, und obwohl mich dies mit Sicherheit berührt, kann ich doch die Vorschrift, daß Schweine geschlachtet werden sollten, wenn die Zeit dafür gekommen ist, nicht ablehnen, solange ich über­zeugt bin, daß dies für die menschliche Existenz, die eben bei allen Moralüberlegungen im Mittelpunkt steht, notwendig ist. Dar­über hinaus würde ich aber auch gewisse Möglichkeiten in Er­wägung ziehen, die die moderne Wissenschaft und Technik bereit­halten, das Leiden der uns unter­worfenen Kreaturen zu lindern. Und nur, weil ich persönlich das Gefühl habe, daß es unmoralisch wäre, ein solches Problem ernsthaft aufzuwerfen, solange Hunger, Krieg und Seuchen Millionen von Menschen bedrohen, möchte ich es mit diesen Andeutungen bewenden lassen. Es ist ohnehin genug deutlich gewor­den, daß unsere Wahrnehmungs- und Genußfähigkeit, kurz das Niveau menschli­cher Sinnlichkeit, ebenso wie unser Wis­sensstand und das Niveau der produkti­ven Kräfte das definieren, was in einer konkreten Situation als "moralisch rele­vant" angese­hen wird. Dieser Begriff beschreibt eine in hohem Maße komplexe Erscheinung, die erst zum Problem wird und dann zur Entscheidung steht, wenn sie uns aufgrund unserer Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit in ir­gendei­ner Weise berührt; innerhalb dieses sicherlich noch ziemlich grob abgesteckten Rahmens stellen wir unsere moralischen Überle­gungen an, deren Grundlage stets das eigene Interesse des han­delndes Subjektes ist, das heutzutage in vielfältiger Weise und immer öfter global mit den Interessen anderer Subjekte verwoben ist.

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quaas@gmx.net

Eingestellt:
Juni 2008