Zur Einordnung der Ethik R.M.Hares
Ethik im wörtlichen Sinn genommen ist die Sittenlehre, die traditionellerweise den praktischen Teil der Philosophie bildet. In ihr geht es darum, moralische Sätze zu diskutieren, das heißt, sie aufzugreifen oder aufzustellen, sie zu begründen oder ad absurdum zu führen sowie ihre Konsequenzen deutlich zu machen. Moralische Sätze haben aber einen normativen Charakter. Deshalb scheint es unvermeidbar zu sein, daß auch die Ethik einen normativen Charakter hat. In der Regel ist dies auch so gewesen. Daneben bildeten sich aber schon in der Neuzeit (Spinoza) Tendenzen aus, eine beschreibende Ethik zu schaffen, Tendenzen, die in der Philosophie von Moritz Schlick einen klaren Ausdruck fanden. Im Unterschied zur Pflichtenethik (z.B. Kants) stellt Schlicks "Ethik der Güte" keine Normen auf, nach denen sich die Menschen zu richten haben, sondern sie macht sich die sowieso gültigen Normen zum Gegenstand und spricht sie aus. Die Ethik besteht so im wesentlichen aus (wahren oder falschen) Aussagen über die in einer bestimmten Gemeinschaft gültigen Normen.
Schlicks Ethik ist nun nicht einfach deswegen positivistisch, weil Schlick ein Vertreter des Neopositivismus genannt werden kann; sie ist es, weil die bestehenden Normen als das Positive gesetzt werden, das der Theoretiker lediglich zur Kenntnis zu nehmen hat, dessen Ursachen und Folgen er erforschen kann, die aber sonst nicht zu hinterfragen sind: Es ist nicht nötig und auch nicht möglich, daß der Wissenschaftler in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler Stellung zu den Normen nimmt, daß er sie kritisiert oder argumentativ begründet. M.a.W.: eine beschreibende Ethik hat zwar Normen zum Gegenstand, sie ist aber selbst nicht normativ, sie sagt uns nicht, ob die Normen, die sie darstellt, legitim sind oder nicht, ob man sie befolgen soll oder nicht.
Eine rein beschreibende Ethik mag für einen praktisch interessierten Menschen unbefriedigend sein, wenn er Orientierungshilfen für sein eigenes Handeln erwartet. Sie ist aber auch aus rein theoretischer Sicht unbefriedigend, weil sie nämlich wenig oder nichts über den Mechanismus der Begründung von moralischen Sätzen zu sagen hat. Daran müssen wir aber als Theoretiker genauso interessiert sein wie an der Beschreibung der jeweils herrschenden Normen: das Analysieren der historischen und aktuellen Prozesse, die zur Produktion, zur Verallgemeinerung, zur Destruktion und zum Wandel von Normen führen.
Eine nicht-normative Ethik muß deshalb beschreibend und erklärend sein. Und eine solche nicht-normative Ethik, die uns einen (den?) Mechanismus der Begründung von moralischen Sätzen darstellt, hat (u.a.) Richard M. Hare entwickelt. (Die Sprache der Moral, Freiheit und Vernunft.)
"R.M.Hare, geb.1919, ist seit 1966 Professor für Moralphilosophie an der Universität Oxford." (Covertext in Freiheit und Vernunft.)
Die von ihm entwickelte Theorie kann in einem konzeptionell zentralem Punkt als Anwendung des kritischen Rationalismus auf die Moralphilosophie gedeutet werden: der Mechanismus des moralischen Begründens funktioniert nach dem trial-and-error-principle. Da wir es auf dem Gebiet der Ethik aber mit moralischen Sätzen zu tun haben, die einen völlig anderen Status als wissenschaftliche Theorien aufweisen, müssen wir die Unterschiede beachten, die bei der Anwendung des gleichen Grundprinzips (des modus tollens) eine Rolle spielen. Zunächst brauchen wir eine exakte Charakteristik moralischer Ausdrücke.
Die Merkmale moralischer Sätze
Zunächst muß festgestellt werden, wozu überhaupt moralische Sätze da sind: Moralische Sätze lösen ein moralisches Problem, und
dieses besteht in der Unentschiedenheit einer Handlungsalternative. Es kann durch die Frage formuliert werden: "Was soll ich tun?"
Aber nicht alle Antworten auf diese Frage sind moralisch. ("Einkaufen gehen!") Das liegt darin, daß nicht alle Situationen, in denen
man sich entscheiden muß, moralisch sind. Eine notwendige Bedingung dafür ist, daß die Situation eine allgemeine Schwierigkeit
darstellt, die für alle Menschen - wenigstens im Prinzip - eine Bedeutung hat. Dies können wir exakt an den Antworten, den Sätzen
festmachen, die auf die obige Frage gegeben werden. Um moralisch zu sein, müssen Sätze die im folgenden beschriebenen
Eigenschaften haben:
Moralurteile und andere Arten wertender Ausdrücke sind universalisierbar und präskriptiv.
Was heißt das?
Universalisierbare Sätze im Sinne Hares legen denjenigen, der sie verwendet, darauf fest, Fälle, die dem gerade beurteilten Fall in relevanter Hinsicht ähnlich sind, in der gleichen Weise zu beurteilen (Universalisierbarkeit). Die Universalisierbarkeit allein ist kein typisches Kennzeichen moralischer Sätze. Wenn ich beispielsweise von diesem Stück Kreide behaupte, daß es weiß ist, dann ist dieser Satz in dem Sinne universalisierbar, daß ich mich mit der Anwendung des Prädikats "weiß" darauf verpflichtet habe, alle jene Dinge, die dem Stück Kreide in puncto Farbe ähnlich sind, ebenfalls als "weiß" zu bezeichnen. Die Universalisierbarkeit beruht auf der sprachlichen Regel, wie ich das Wort 'weiß' zu verwenden habe. Diese Regel ist allgemein, d.h., sie gilt nicht nur für einen einzigen Anwendungsfall, sondern für potentiell unendlich viele. In gleicher Weise sind auch moralische Sätze universalisierbar. Wenn ich etwas als "moralisch sauber" bezeichne, lege ich mich damit darauf fest, alles andere, das diesem Fall in moralisch relevanter Hinsicht ähnlich ist, ebenfalls als "moralisch sauber" zu bezeichnen. Dabei kann durchaus offen sein, was die moralisch relevanten Gesichtspunkte sind, unter denen wir verschiedene Fälle miteinander zu vergleichen haben. Dies ist ja auch für physische Eigenschaften offen und wird in dem Maße präzisiert, wie dafür ein Bedürfnis aufkommt.
Präskriptive Sätze schreiben dem Adressaten eine bestimmten Handlung (verbindlich) vor. "Du sollst nicht töten." ist eine Vorschrift und keine Beschreibung eines Zustands oder einer Handlung. Die Verbindlichkeit ist auch dann beansprucht, wenn sie vom Adressaten nicht anerkannt wird. Ohne diese Verbindlichkeit würde es sich nicht um einen moralischen Satz handeln: Ein Satz, der keinerlei Verbindlichkeit für irgend jemanden beansprucht, kann Handeln nicht normieren und deshalb auch keine moralische Qualität haben. Beispiele für nicht präskriptive Sätze sind Wünsche: "Ich wünsche mir eine zweite Chance" - beansprucht keinerlei Verbindlichkeit für irgend jemanden.
Diese beiden Merkmale, die Universalisierbarkeit und die Präskriptivität sind formale, logische Eigenschaften moralischer (wertender) Ausdrücke, insbesondere des Wortes "sollte" in seiner präskriptiven Verwendungsweise. Einzeln, für sich genommen können sie keine inhaltlichen (moralischen) Schlußfolgerungen rechtfertigen. Ihre Bedeutung für die Begründung und Diskussion moralischer Probleme entspringt daraus, daß eine logisch zwingende Argumentation erst durch diese logischen Eigenschaften moralischer Ausdrücke ermöglicht wird. Ein universalisierbarer Ausdruck, der nicht präskriptiv ist, schreibt anderen Menschen in ähnlichen Situationen nichts vor, kann also auch nicht zur Lösung moralischer Probleme herangezogen werden. Und ein präskriptiver, aber nicht universalisierbarer Ausdruck, wie zum Beispiel ein Wunsch, der in Form einer Bitte geäußert wird, bedeutet nicht, daß in ähnlichen Situationen die gleiche Handlung vorgeschrieben ist.
Der Mechanismus der Moralbegründung
Auf dieser allgemeinen, logischen Grundlage konstruiert Richard M. Hare einen Mechanismus der Moralbegründung, der dem von K. R. Popper vorgeschlagenen Falsifikationsmechanismus wissenschaftlicher Theorien analog ist. Zunächst muß eine Erkenntnis erwähnt werden, die logischer Art ist und die für jede moderne Ethik eine grundlegende Bedeutung hat:
Das Humesche Gesetz:
Kein Moralprinzip kann allein aus Tatsachen abgeleitet werden.
Dem entspricht die (logische) Forderung:
Kein Sollen aus dem Sein ableiten!
Hierin besteht eine gewisse Parallelität zum Induktionsproblem: Genauso wenig wie eine wissenschaftliche Theorie aus Tatsachen abgeleitet oder mit ihrer Hilfe begründet werden kann (Poppers Kritik am Induktionsprinzip), kann ein Moralprinzip allein mit Hilfe von Tatsachen (darunter auch die Einstellungen der Menschen) begründet werden.
Im Grunde ist eine moralische Regel oder ein (präskriptiver) wertender Ausdruck eine Setzung, um diesen Ausdruck Hans Reichenbachs zu verwenden, für die es keine Begründung im Sinne eines logischen Schlusses aus den vorliegenden Tatsachen gibt; doch im Unterschied zu einer (wissenschaftlichen) Theorie beschreibt ein wertender Ausdruck nicht nur bestimmte Fakten, sondern schreibt zugleich ein bestimmtes Handeln vor (empfiehlt, erlaubt, ge- oder verbietet es).
Wiederum analog zur Überprüfung wissenschaftlicher Theorien vollzieht sich die moralische Argumentation: Aus der universellen Vorschrift leiten wir mit logischen Mitteln singuläre Vorschriften ab, insbesondere solche, die uns selbst betreffen, um zu sehen, ob wir die Konsequenzen unserer moralischen Prinzipien akzeptieren können. Hier sind wieder die logischen Schlußregeln, unter anderem der modus tollens, zuständig. Aus dem allgemeinen moralischen Sätzen leiten wir also singuläre, überprüfbare Folgerungen ab. Aber woran sollen Moralurteile überprüft werden?
Die letzte falsifizierende oder verifizierende Instanz eines Moralurteils sind die eigenen Interessen, die entweder gegeben sind oder die angenommen werden können, insofern man sich selbst von jenen Konsequenzen betroffen vorstellt.
Moralisches Argumentieren hat bestimmte Voraussetzungen: Ohne ein einigermaßen entwickeltes Vorstellungsvermögen und ohne eigenes (Mit-) Empfinden ist eine moralische Argumentation nicht möglich; ebenso ohne ein hinreichendes Wissen über die relevanten Tatsachen und ohne die Logik moralischer Ausdrücke.
Das Vorstellungsvermögen wird zum Beispiel durch Kunst und Literatur entwickelt. Selbst wenn die Kunst keinerlei moralischen Inhalt transportiert, erfüllt sie doch eine für die Moral wesentliche Funktion: Sie regt die Phantasie der Menschen an, über die Befindlichkeit ihrer Mitmenschen, die sich in anderen Situationen befinden, nachzudenken.
Die Medien (Presse, Funk, etc.) haben die für die Moral wesentliche Funktion, über die Folgen unserer Handlungen zu informieren. Und schließlich brauchen wir die Logik, um überhaupt einen zwingenden Schluß oder eine Argumentation zuwege zu bringen.
Das eigene Interesse ist die Basis der Moraldiskussion, durch die die utilitaristischen Weise der Moralbegründung realisiert wird. Man wird realistischerweise nur solche Moralprinzipien akzeptieren, deren Folgerungen darüber, was ich persönlich tun sollte, mit meinen eigenen Interessen nicht in Konflikt geraten. Wenn letzteres der Fall ist, werden wir das entsprechende Moralprinzip ablehnen. Aber auch andere werden es ablehnen, wenn ein moralischer Satz mit ihren Interessen in Konflikt gerät. Aber Interessen allein reichen nicht aus, um moralische Sätze zu begründen. Da Moral von vornherein den anderen Menschen mit einbeziehen muß, besteht eine Grundfigur der moralischen Argumentationsweise darin, sich gedanklich in die Lage derjenigen zu versetzen, die von den Moralurteilen, die wir akzeptieren, und vor allem von den Handlungen, die sich von diesen Moralurteilen leiten lassen, betroffen sind oder sein könnten. Wir werden von uns selber nicht mehr verlangen (lassen), als wir von anderen verlangen oder als andere von sich selbst verlangen (lassen). Umgekehrt werden wir auch von anderen nicht mehr verlangen können, als wir selbst zu geben bereit sind.
Um die Grenzen der Moral zu erkennen, muß man wissen, wodurch das eigene Interesse verletzt werden kann. Das sind nicht nur die #besonderen Interessen der anderen Menschen, sondern auch die eigenen Ideale, wenn wir für deren Verwirklichung ohne Rücksicht auf unsere eigenen Interessen eintreten. Letzteres definiert Hare als Fanatismus.
Der utilitaristische Standpunkt Hares führt unter der Voraussetzung, daß wir keine Fanatiker sind, sondern unsere Ideale unseren Interessen unterordnen, beispielsweise zu einer liberalistischen Moral gegenüber jeder Art von Rassenvorurteilen. („Stell dir vor, du wärst ein Schwarzer! Würdest du es dann richtig finden, daß Weiße die bessere Arbeit bekommen sollen?“)
Wirkungslos ist die moralische Argumentation gegenüber denjenigen, die eine Handlung entweder für moralisch irrelevant halten („Schwarze sind eben für die groben Arbeiten von Natur aus besser geeignet als Weiße, das ist gar kein moralisches Problem“) oder die bereit sind, auch ihre eigenen Interessen einem Ideal aufzuopfern wie der Fanatiker („Wenn ich ein Schwarzer wäre, würde ich es trotzdem richtig finden, zu einer Art Sklavenrasse zu gehören.“)
Die Grenzen der moralischen Argumentation zwingen jedoch nicht dazu, die Ethik, die hier als eine moralisch neutrale Logik moralischen Argumentierens verstanden wird, in Frage zu stellen oder abzuändern: Wer nur präskriptiv oder mit nur universalisierbaren Ausdrücken argumentiert, argumentiert eben nicht moralisch. Nur präskriptiv wäre der Satz: „Ich habe gar nicht gesagt, daß Schwarze immer die gröberen Arbeiten machen sollen, nur dieser Schwarze hier soll das tun.“ - Nur universalisierbar, aber nicht präskriptiv: „Ein Schwarzer eignet sich nun einmal besser für gröbere Arbeiten.“) In beiden Fällen wird die moralische Argumentation umgangen. Der Fanatiker dagegen bleibt auf der Ebene der Moral. Aber dafür zahlt er u.U. für seinen rücksichtslosen "Idealismus" mit der Verletzung seiner eigenen Interessen.
Hare hält es sogar für möglich, mit Hilfe seiner Moralphilosophie das Verhältnis zwischen Mensch und Tier in sinnvoller Weise zu diskutieren: "Mit Hilfe dieses Begründungsverfahrens können wir auch erklären, warum wir gewisse Pflichten gegenüber Menschen und Tieren, gewisse andere nur gegenüber Menschen haben. So würden wir beispielsweise von niemanden glauben, daß er Tiere unterdrückt, weil er ihnen keine Selbstverwaltung zugesteht; andererseits wird es jedoch im allgemeinen für falsch gehalten, Tiere zum Spaß zu quälen." (Freiheit und Vernunft, S.246.) Denn beide, Tier und Mensch, empfinden Schmerz. Deshalb ist es möglich, zu fragen: „Wie würdest du es finden, wenn man dir diesen Schmerz zufügen würde?“
Zur Kritik der utilitaristischen Ethik Hares
Dieses wie auch das andere von Hare in diesem Zusammenhang gewählte Beispiel (Hunde beißen einen festgebundenen Bär) lassen aber nicht diejenigen moralischen Fragen erkennen, um die es heute geht: Schließlich quält niemand zum Spaß Kaninchen, wenn er an ihnen Kosmetika testet, die von einem Teil der Menschen verwendet werden. Doch abgesehen von dieser Relevanzfrage krankt der Argumentationsmechanismus grundsätzlich an dem Problem, was es heißen mag, sich in die Situation eines Tieres zu versetzen, das von unseren Handlungen betroffen ist. Zwar gibt Hare an einer Stelle zu, "daß die Schwierigkeit, zu wissen, was es bedeuten würde, wie ein Bantu zu fühlen, nicht so groß ist wie die, zu wissen, was es bedeuten würde, wie ein Ochse zu fühlen" (S.229), aber er zieht daraus keine Konsequenzen. Daß wir nicht auf diese Weise argumentieren können, bemerkt man spätestens dann, wenn man die Schwierigkeiten, sich in die Lage "des anderen" zu versetzen, unendlich vergrößert: Wie verhalten wir uns gegenüber der pflanzlichen und der unorganischen Natur? Kann man sich etwa in die Lage eines Urwaldbaumes, eines Braunkohlereviers oder eines übersäuerten Sees versetzen? Müßte die Menschheit erst eine entsprechende Vorstellungsfähigkeit entwickeln, um sich Moralprinzipien für den Umgang mit der "Umwelt" zu geben, ihr Untergang wäre jetzt schon beschlossene Sache.
Aus diesem Hinweis auf die pflanzliche und die unorganische Natur könnte man die Schlußfolgerung ziehen, daß die Ausdehnung der moralischen Argumentation hier eben etwas zu weit geht, daß es im strengen Sinn keine Moral für den Umgang mit dem nicht-menschlichen Rest der Welt gibt. Konsequenterweise müßte man dann auch bestreiten, daß es einen moralischen Kodex für das Verhalten gegenüber Tieren geben kann. Diese, bloß partiale Kritik an Hares Konzeption würde sich die Sache aber in zweifacher Hinsicht etwas zu leicht machen: Auf der einen Seite würde das existierende Problem des Umgangs mit der Natur auf eine rein technische Frage reduziert, es hätte keine moralische Dimension mehr; auf der anderen Seite könnten wir die im Grunde willkürliche Einschränkung des Gültigkeitsbereiches der Hareschen Ethik auf "menschliche Gegenpole" nicht erklären. "Willkürlich" jedenfalls ist diese Einschränkung, da Prinzipien für das Verhalten gegenüber der (unorganischen) Natur ebenfalls universalisierbar und präskriptiv sein können, dann aber im Sinne Hares Wert- oder Moralurteile sind.
Um das skizzierte Problem in seiner ganzen Schärfe zu stellen, wollen wir hier also nicht den bequemen Weg gehen, die moralische Qualität von Urteilen davon abhängig zu machen, ob sie sich auf das Verhältnis zwischen (mindestens zwei) Menschen bezieht (das "soziologische Extrem" in der Moralphilosophie); wir halten es im Gegenteil für eine rein terminologische Frage, von einer Moral des Umgangs mit der (nicht-menschlichen) Natur zu reden oder nicht. Hält man an der obigen Definition der Moralurteile anhand ihrer grundlegenden logischen Eigenschaften (Universalisierbarkeit und Präskriptivität) fest, so stellt sich das Problem, wie eine solche Moral zu begründen ist, theoretisch. Und die Lösung eben dieses Problems ist es auch, was von dem Philosophen in praktischer Hinsicht verlangt werden kann.
Eine Korrektur des Hareschen Argumentationsverfahrens muß davon ausgehen, daß es nicht in jedem Fall möglich ist, sich in die Lage des Betroffenen zu versetzen. Dieses Problem ist ja soeben dargestellt worden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer oder was von unseren Handlungen als derart "betroffen" gelten kann, daß er oder es in einer moralischen Überlegung berücksichtigt werden müßte. Wenn ich, um meiner Frau eine Freude zu machen, ihr Blumen schenke, die gerade frisch geschnitten worden sind, dann könnte ein etwas fanatischer "Grüner" in diesem Zusammenhang die moralische Frage aufwerfen, ob es gerechtfertigt werden kann, wegen eines augenblicklichen Glücksgefühls das einmalige Leben einer Pflanze zu opfern. Ein solches "Problem" würden wir in der Praxis als "lächerlich" zurückweisen, doch damit ist ja keineswegs geklärt, warum wir dies tun können, und zwar mit Recht.
Beginnen wir mit der ersten Korrektur. Hares Mechanismus der Überprüfung unserer Moralurteile verlangt, die Konsequenzen zu ziehen und zu überprüfen, ob wir diese auch dann noch akzeptieren können, wenn wir selbst davon betroffen wären. Es gibt aber Fälle, bei denen wir aus prinzipiellen Gründen niemals direkt betroffen sein können und bei denen wir uns folglich auch nicht vorstellen können, uns in der Lage des Betroffenen zu befinden. Im Falle des Urwaldbaumes scheint dies klar zu sein: Ich würde gern den kennenlernen, der versichert, er könne sich in die Lage eines alten Baumes versetzen, der gerade gefällt wird!
Anhand dieses Beispiels ist aber auch leicht zu bemerken, daß es gar nicht nötig ist, sich in die Lage "des anderen" zu versetzen. Es gibt indirekte Wirkungen dieser Handlungen (des Fällens von Urwaldbäumen), die auf uns Menschen zurückwirken (werden), und die wir uns sehr gut vorstellen können, weil einige von uns (zufälligerweise) schon davon betroffen worden sind: Sie haben erlebt, wie ein ihnen Nahestehender an Hautkrebs elend zugrunde gegangen oder Opfer eines Hurikans geworden ist.
Das legt nahe, vor allem die direkten und indirekten Konsequenzen zu bedenken, die Handlungen auf uns selbst als Handlungsträger haben, haben werden oder haben können. An die Stelle des betroffenen Objekts dieser Handlungen tritt damit in erster Linie das handelnde Subjekt, insofern es vermittelterweise selbst zum Objekt wird.
Offensichtlich ist mit diesem Vorschlag das Problem, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, einfach dadurch beseitigt, als es sich nicht mehr als notwendig erweist. Wenn es möglich ist, auch dann zu universalisierbaren und präskriptiven Moralurteilen zu gelangen, wenn wir uns lediglich auf unser Interesse als Handelnder und indirekt Betroffener berufen, dann braucht das Vorstellungsvermögen auch nur in dem Maße strapaziert zu werden, wie es für einen mit durchschnittlicher Phantasie begabten Menschen, der sich in der Regel eben nicht in die Gefühle eines Bären geschweige denn einer Waldameise hineinversetzen kann, möglich ist. Das schließt nicht aus, in allen den Fällen, in denen Menschen direkt betroffen sind, der Argumentationsweise Hares genau zu folgen.
Nun kann es aber Menschen weißer Hautfarbe geben, denen es durchaus schwer fällt, sich vorzustellen, sie wären in der Lage eines Schwarzen. Ihre Charakterisierung als phantasielose Geschöpfe, verbunden mit dem Hinweis auf die moralische Funktion der Kunst, die darin bestehen soll, die soziale Phantasie der Menschen zu entwickeln, scheint mir in dieser Beziehung ein recht stumpfes Schwert gegen den Rassismus zu sein. Es trifft ihn zwar, aber nur um ihn zu verprellen: phantasielose Rassisten sind zwar in der Masse keine Fanatiker, aber sie sind im Grunde amoralisch. - Dies widerspricht aber der Tatsache, daß sie in der Regel durchaus eine Moral haben, wenn auch nicht die liberale eines Richard Hare.
Eine wahrhaft neutrale Ethik hat die Aufgabe, auch die Moral eines Rassisten oder eines Nazis, insofern sie eine solche haben, zu erklären. Da diese Subjekte einen prinzipiellen Unterschied zwischen sich und der diskriminierten Rasse sehen, hat es auch keinen Zweck an ihr Vorstellungsvermögen zu appellieren, also zum Beispiel einem eingefleischten Rassisten Glauben machen zu wollen, er könne infolge einer Krankheit zu einem Schwarzen werden. Es genügt völlig, ihn auf die politischen Gefahren aufmerksam zu machen, die ihm selbst und seinesgleichen aus seiner diskriminierenden Verhaltensweise erwachsen können, insbesondere dann, wenn er in einem Land lebt, in dem die Farbigen leicht die Oberhand gewinnen können. In dem Maße wie die Gegenmacht wächst, wird der (nicht-fanatische) Rassist auch zu der Überzeugung gelangen, daß es für ihn besser ist, wenn er auch die Mitglieder anderer Rassen als Seinesgleichen ansieht und behandelt. Selbstverständlich gilt dies nicht für den Fanatiker, der seinen Rassismus angesichts eines wachsenden Selbstbewußtseins der unterdrückten Rasse eher noch verstärken wird. Da der Fanatiker alle Interessen seinem Ideal unterordnet, kann man ihm auch nicht mit seinem wohlverstandenen Eigeninteresse kommen.
Wie man sieht, ist eine auf das Interesse des Handlungsträgers abgestellte Moralphilosophie nicht nur allgemeiner (bezüglich der Anwendbarkeit auf den nicht-fanatischen Rassisten und die "Umweltmoral"), sondern auch realistischer in dem Sinne, als sie solche politischen Realitäten wie die Macht der Betroffenen ins Kalkül einbezieht. Es ist aber wesentlich, zu bemerken, daß die Macht der Betroffenen damit nicht zum Angelpunkt der Moralentwicklung des Akteurs wird. Das moralische Problem, wie wir uns zu Tierversuchen verhalten sollten, entstand ja nicht dadurch, daß sich beispielsweise die Kaninchen aller Laboratorien vereinigt und damit eine größere Macht gegenüber den Menschen gewonnen hätten. Dieses Problem ergibt sich vielmehr aus den Wirkungen, die eine leidende Kreatur auf den Menschen als empfindungsfähiges und darum mitleidendes Wesen ausübt. Weil viele Menschen einen seelischen Schmerz empfinden, wenn einem Tier ein körperlicher Schmerz zugefügt wird (eine absolut nicht-moralische Tatsache, die vielleicht ein Anthropologe erklären kann), können diese Menschen einem Moralurteil nicht zustimmen, nach dem es den Menschen erlaubt sein soll, mit Tieren so umzugehen, wie es ihnen beliebt. Da es andererseits unumgänglich ist, zur physischen Reproduktion der menschlichen Existenz Tiere genau nach diesem Spinozistischen Grundsatz zu behandeln, möchten diese Menschen seine Anwendung auf die wirklich notwendigen Fälle beschränkt wissen. Zum Beispiel: "Keine unnötigen Tierversuche!" Daß das Schlachthaus prinzipiell eine grausame und unmoralische Einrichtung ist, wird man selten als ein ernst gemeintes Argument zu hören bekommen, obwohl die Leiden dieser Kreaturen dort einen Höhepunkt erreichen, der selbst für die nicht direkt betroffenen Menschen wohl nicht ohne einen gewissen Verlust an Menschlichkeit zu ertragen ist.
Ein moralischer Grundsatz, der ein bestimmtes Handeln gegenüber Menschen und ihrer Umwelt allgemein verbindlich vorschreibt, kann anhand seiner inakzeptablen Konsequenzen, die direkte oder indirekte Wirkungen der Handlungen auf den Aktor oder auf die, die er als Seinesgleichen ansieht, beschreiben, "falsifiziert" werden.
Damit kommen wir zu der Frage, wen der Akteur als "Seinesgleichen" ansieht, oder allgemeiner formuliert: welche Handlungsmomente als "in moralischer Hinsicht relevant" hervorgehoben werden. Um an das oben genannte Beispiel anzuknüpfen: Warum ist das Leben der Rosen, die ich meiner Frau zum letzten Hochzeitstag geschenkt habe, in moralischer Hinsicht völlig irrelevant? Aus der Sicht Harescher Moralphilosophie könnte man mit dem Hinweis argumentieren, daß die Rose in Ermangelung eines Nervensystems keinen Schmerz empfinden könne, wir also auch nicht befürchten müßten, einen solchen zu erleiden, wenn wir Rosen wären. Folglich gibt es auch keinen Grund, die universale Vorschrift abzulehnen, daß man seiner Frau zum Hochzeitstag Rosen schenken sollte... Aber ist diese Argumentation nicht an den Haaren herbeigezogen? Ist es nicht vielmehr so, daß wir Männer unseren Frauen auch dann noch Rosen schenken würden, wenn wir genau wüßten, daß die Rose von ihrer Art Todesschmerz ganz und gar ergriffen ist und genau daran zugrunde geht? Dem "Röslein rot" hilft bekanntlich kein "Weh" und "Ach"!
Doch es finden sich immer Leute, die nicht nur das Gras wachsen, sondern selbst Steine schreien hören. Die meisten von uns wissen jedoch, was man davon zu halten hat. Fakt ist, daß die menschliche Sinnlichkeit Derartiges nicht wahrnehmen kann - trotz der enormen Fortschritte, die die Menschheit bei der Verbesserung und Unterstützung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit bisher gemacht hat. Das heißt aber auch: Sollte es uns jemals gelingen, so etwas wie Rosenschreie wahrnehmbar zu machen, dann wird sich eine wachsende Zahl von Menschen finden, die es für unmoralisch halten, wenn emotional verbundene Paare ihr Glück auf Kosten eines Blumenlebens feiern möchten.
Daß wir die Wirkungen, die von unseren Handlungen ausgehen, wahrnehmen, ist natürlich eine notwendige Voraussetzung dafür, daß sie irgendeine Rolle in unseren moralischen Überlegungen spielen. Eine weitere besteht darin, daß sie uns in irgendeiner Weise berühren: dies setzt eine tatsächliche, wenn auch nur partielle Gemeinsamkeit voraus. (Diese muß allerdings nicht so weit gehen, daß wir uns in die Lage eines beliebigen Objekts versetzen können müssen.) Darüber hinaus muß man in bestimmten Fällen auch gewisse Notwendigkeiten in Betracht ziehen, denen die menschliche Existenz unterliegt: Obwohl ich den die Leiden, die ein Schwein im Schlachthaus durchmacht, sehr gut wahrnehmen kann, wenn ich dies will, und obwohl mich dies mit Sicherheit berührt, kann ich doch die Vorschrift, daß Schweine geschlachtet werden sollten, wenn die Zeit dafür gekommen ist, nicht ablehnen, solange ich überzeugt bin, daß dies für die menschliche Existenz, die eben bei allen Moralüberlegungen im Mittelpunkt steht, notwendig ist. Darüber hinaus würde ich aber auch gewisse Möglichkeiten in Erwägung ziehen, die die moderne Wissenschaft und Technik bereithalten, das Leiden der uns unterworfenen Kreaturen zu lindern. Und nur, weil ich persönlich das Gefühl habe, daß es unmoralisch wäre, ein solches Problem ernsthaft aufzuwerfen, solange Hunger, Krieg und Seuchen Millionen von Menschen bedrohen, möchte ich es mit diesen Andeutungen bewenden lassen. Es ist ohnehin genug deutlich geworden, daß unsere Wahrnehmungs- und Genußfähigkeit, kurz das Niveau menschlicher Sinnlichkeit, ebenso wie unser Wissensstand und das Niveau der produktiven Kräfte das definieren, was in einer konkreten Situation als "moralisch relevant" angesehen wird. Dieser Begriff beschreibt eine in hohem Maße komplexe Erscheinung, die erst zum Problem wird und dann zur Entscheidung steht, wenn sie uns aufgrund unserer Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit in irgendeiner Weise berührt; innerhalb dieses sicherlich noch ziemlich grob abgesteckten Rahmens stellen wir unsere moralischen Überlegungen an, deren Grundlage stets das eigene Interesse des handelndes Subjektes ist, das heutzutage in vielfältiger Weise und immer öfter global mit den Interessen anderer Subjekte verwoben ist.
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Eingestellt:
Juni 2008